Welche Rolle spielt die Religion aktuell im Nahost-Konflikt?
Im Nahost-Konflikt, also dem Konflikt zwischen Israel und Palästinenserinnen und Palästinensern sowie sich daraus ergebenden Spannungen zwischen Israel und den muslimischen Staaten der Region, spielt die Religion eine nur untergeordnete Rolle. Es geht zunächst um konträre Ansprüche bezüglich Territorium und Souveränität Israels und der Palästinenserinnen und Palästinenser, konkret um die von Israel besetzten Gebiete, also Ost-Jerusalem, die Westbank, Gaza und die Golanhöhen. Darüber hinaus geht es um die Folgen, die global spürbar sind – obwohl sie zunächst die Palästinenserinnen und Palästinenser zu tragen haben, vor allem die Millionen von Flüchtlingen, die zum Teil in der dritten Generation und als Staatenlose auch die Gesellschaften angrenzender Staaten wie des Libanon und Jordaniens stark prägen.
Religion wird bei dem Konflikt wichtig, wenn es darum geht, bestimmte Positionen zu legitimieren oder Solidarität zu erzeugen. Ein Beispiel ist, wenn religiöse Juden aus der Thora Ansprüche auf ganz Palästina ableiten und sich diese Rhetorik, wie in der aktuellen israelischen Regierungskoalition, mit extremnationalistischen Positionen trifft. Auch die Ablehnung des Zionismus durch Orthodoxe Jüdinnen und Juden ist ein religiöser Faktor, funktioniert allerdings in die entgegengesetzte Richtung, insofern sie den nationalistischen Anspruch auf Israel zurückweist. Für Palästinenser:innen, Muslime wie Christen, geht es um Land und politische Rechte, nicht um Religion. Dass sich der palästinensische Widerstand gegen die israelische Besatzung heute am stärksten über einen militanten Islamismus – wie im Fall der Hamas – äußert, ist Produkt unterschiedlicher Faktoren, insbesondere aber des Scheiterns des säkular-arabischen Nationalismus. Der Islamismus ist dabei in erster Linie ein politisches Projekt, der seine Feinde – in diesem Fall Israel und die es unterstützende westliche Allianz – religiös markiert und den politischen Widerstand bis zu terroristischen Methoden islamisch verbrämt und legitimiert. Daneben ist Religion wichtig in der global wirksamen muslimischen Solidarisierung mit den Palästinensern. Das palästinensische Schicksal wird als das Schicksal muslimischer Glaubensbrüder und -schwestern gedeutet. Dieses Motiv kann sich im Islamismus mit einem antiwestlichen Diskurs und der Theorie einer westlich-jüdischen Verschwörung gegen die Muslime überlagern. Religion spielt also vor allem eine legitimierende und motivierende Rolle im Nahostkonflikt, aber der Konflikt selbst ist kein Religionskonflikt.
Sie beschäftigen sich stark mit „Religion und Politik in der Türkei“, aber auch mit religiösen Minderheiten und Minderheitendiskursen im Nahen Osten. Antisemitismus ist aktuell hierzulande ein großes Thema, Islamfeindlichkeit aber auch. Lassen sich in der Türkei und Ländern der Nahost-Region entsprechende Strömungen finden?
Judenfeindlichkeit begann im Osmanischen Reich in Palästina mit der Ansiedlung von Jüdinnen und Juden Ende des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurden europäische antisemitische Stilfiguren importiert. Dieser Antisemitismus war zunächst eine Randerscheinung, da die osmanischen Angehörigen des Judentums, im Gegensatz zu armenischen und griechisch-orthodoxen Angehörigen des Christentums, keine nationalistischen und separatistischen Bestrebungen verfolgten und deshalb noch in der frühen Republik als die „loyale Religionsgruppe“ bezeichnet wurden. Da der türkische Nationalismus in der 1923 gegründeten Republik Türkei nationale Homogenität in Bezug vor allem auf Sprache und Religion als wichtiges Kriterium für den Fortbestand der – implizit muslimischen – Nation definierte, wurden schon in den 1920er Jahren neben den Christen auch Juden diskriminiert.
Ein spezifisch türkischer Antisemitismus entwickelte sich in den 1930er Jahren. Er war vom europäischen Antisemitismus beeinflusst, entwickelte aber in seinen nationalistischen und islamistischen Ausprägungen eine eigene Note mit Bezug zur osmanisch-türkischen Geschichte. Schon 1934 gab es in mehreren Städten Westthrakiens antijüdische Pogrome. Wie in Deutschland finden sich antisemitische Elemente in der Türkei vom rechten bis zum linken und vom säkularen bis zum religiösen Lager, sind aber vor allem im extrem-nationalistischen sowie im islamistischen Lager besonders virulent. Soweit ich das überblicke, bedient sich der türkisch-nationalistische Antisemitismus stärker rassistischer Motive, während sich der islamistische Antisemitismus aus dem Nahostkonflikt speist. Die Israelkritik Erdoğans und der Regierungspartei AKP sind Teil des islamistischen Diskurses, und antisemitische Figuren werden auch hier regelmäßig aktiviert. Allerdings spielen religiöse Argumentationsfiguren in antisemitischen Diskursen der Türkei wenn überhaupt nur eine sekundäre Rolle. Man darf nicht vergessen, dass Juden und Christen als Träger der abrahamitischen Religionstradition im Koran zwar als Schriftverfälscher dargestellt werden, ihnen aber doch eine Teilhabe am Offenbarungsprozess zugestanden wird, weshalb sie unter muslimischer Herrschaft als „Schutzbefohlene“ legitime Mitglieder islamischer Staatswesen waren.
Wie kann man damit umgehen? Welche Lehren können wir gegebenenfalls daraus in Deutschland ziehen, außenpolitisch, aber auch für die Diskurse und den Umgang mit Protesten bei uns?
Der Blick über den Tellerrand hilft vielleicht schon, Antisemitismus – sowohl den muslimischen und vielleicht auch den deutschen – etwas besser zu verstehen. In Deutschland denkt man bei Antisemitismus natürlich zunächst an die deutsche Geschichte und assoziiert mit dem Begriff eine bestimmte Form des anti-jüdischen Rassismus, bei dem sich christliche und säkulare Verschwörungsmythen verbinden und die Vernichtung der Jüdinnen und Juden als solche angestrebt wird.
Es ist falsch, diese Perspektive eins-zu-eins auf muslimischen Antisemitismus zu übertragen, das führt zu Missverständnissen. Auch in der Türkei gab es im Zuge der israelischen Angriffe auf den Gaza verstärkt antisemitische Reaktionen, keine Frage, und es gibt – vor allem, aber nicht nur – in der extremen Rechten antisemitische Tendenzen die sich immer wieder auch schon in Gewalt gegen Juden und Jüdinnen im Land manifestiert haben, zum Beispiel 1934. Gleichzeitig wird aber in der Regel zwischen israelischem Staat und Jüdinnen und Juden im eigenen Land unterschieden. Das heißt, jemand der gegen Israel ist, dabei vielleicht sogar so weit geht, Israel als Staat das Existenzrecht abzuschreiben, ist nicht notwendigerweise gegen Angehörige des Judentums im eigenen Land oder sonst wo. Auch solche generelle Judenfeindlichkeit gibt es zwar, aber der antiisraelische und der antijüdische Diskurs sind eben nicht deckungsgleich.
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