Nachricht vom

Immer häufiger ist im Zusammenhang mit dem Krieg im Gazastreifen von „Genozid“ die Rede. Auch bei der Besetzung des Audimax der Universität Leipzig am 7. Mai war auf einem Banner zu lesen: „Uni-Besetzung gegen Genozid“. Aber was genau bedeutet dieser Begriff aus juristischer Sicht? Was unterscheidet einen Genozid von Massentötungen? Ist das Vorgehen Israels in Gaza noch mit dem Völkerrecht vereinbar? Und welche Folgen könnte ein möglicher Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Premierminister Netanjahu haben? – Diese und andere Fragen beantwortet Völkerrechtlerin Lisa Wiese von der Universität Leipzig im Interview. Dies ist der Auftakt einer Reihe, in der wir weitere Forschende der Universität Leipzig aus verschiedenen Fachrichtungen zu Themen aus Forschung und Lehre zum Nahost-Konflikt zu Wort kommen lassen.

Was ist aus Ihrer Sicht ein Genozid und was nicht? Wird der Begriff gerade inflationär verwendet?

Der Begriff Völkermord wurde durch das Buch „Genozid“ 1944 von dem jüdischen Jurist Raphael Lemkin geprägt. Hierbei handelt es sich um ein Verbrechen, das über die Schwere von anderen Massentötungen hinausgeht. Die Geschichte kennt viele Massaker, bei denen eine große Anzahlen an Menschen sterben. Aber von einem Genozid spricht man nur dann, wenn der Täter die Absicht hat, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. 

In der UN-Genozidkonvention und dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist der Begriff näher definiert. Die Auslöschung einer Gruppe kann hiernach durch verschiedene Tathandlungen erfolgen wie Tötung, Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe, Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung herbeizuführen, Verhängung von Maßnahmen, die auf Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind oder eine gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. 

Auch wenn das Merkmal „vollständige oder teilweise Zerstörung“ eng mit physischer Liquidierung konnotiert zu sein scheint, bezieht sich das Merkmal nicht nur auf physische und biologische Zerstörung, sondern auch auf die Zerstörung einer sozialen Einheit. Dabei muss das Tat-Ziel, nämlich die tatsächliche Zerstörung einer bestimmten Gruppe, nicht erreicht werden, um die Erfüllung des Völkermord-Tatbestands zu bejahen. Ausschlaggebend ist vielmehr die Zerstörungsabsicht, also das subjektive Element, das in der Regel sehr schwer nachweisbar ist. Eine besonders hohe Anzahl an Opfern ist dabei nicht maßgeblich, deutet aber als Indiz auf eine entsprechende Zerstörungsabsicht hin. Im Fall des Holocaust war die systematisch Vernichtung der Juden durch die Nazis akribisch dokumentiert, weshalb hier zweifelsfrei ein Genozid vorlag. 

Kann man Ihrer Meinung nach im Gaza-Krieg von einem Völkermord sprechen?

Schaut man sich die Stellungnahmen verschiedener israelischer Regierungsvertreter an, welche auch im südafrikanischen Eilantrag vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) zitiert wurden im Zusammenspiel mit dem militärischem Vorgehen Israels in Gaza, die Abriegelung des Gazastreifens für die Zulieferung von Hilfsgütern und die Tatsache, dass es keinen sicheren Ort mehr gibt, an dem die Zivilbevölkerung Schutz finden kann, sind meiner Bewertung nach schwere Völkerrechtsverstöße naheliegend. Von einer inflationären oder überzogenen Verwendung des Völkermordbegriffs in diesem Zusammenhang würde ich mit dem Umfang an Berichten, dokumentierten Handlungen und seriösen Einschätzungen, nicht mehr sprechen.   

[Es] warnen Stimmen davor, dem Konflikt, der eigentlich politischer und territorialer Natur sei, eine gerichtliche Lösung aufzustülpen. Vielmehr bedarf es diplomatischer Bemühungen und Verhandlungen zwischen den betroffenen Parteien.

Lisa Wiese

Südafrika hat Klage vor dem Internationalen Gerichtshof erhoben und Israel die Verletzung der Völkermord-Konvention vorgeworfen. Israel weist den Vorwurf entschieden zurück. Wie sehen Sie das aus juristischer Sicht?

Der IGH hat in seiner vorläufigen Entscheidung vom 26.1.2024 dem südafrikanischen Eilantrag ganz überwiegend entsprochen und Israel zur Einhaltung von sechs vorsorglichen Maßnahmen verpflichtet. Das bedeutet, dass möglicherweise drohende Verstöße gegen die Völkermordkonvention plausibel dargelegt wurden. Nur zwei der 17 IGH- Richter:innen waren der Ansicht, dass der Vorwurf Südafrikas zu israelischen Verstößen der Völkermordkonvention nicht plausibel vorgetragen wurde. 

Wichtig zu verstehen ist hierbei, dass das Gericht damit aber nicht festgestellt hat, dass Verstöße gegen die Völkermordkonvention vorliegen. Es hat nur die Umstände geprüft, die den Erlass von bindenden vorläufigen Maßnahmen rechtfertigen und ob eine Dringlichkeit zum Erlass von vorsorglichen Maßnahmen besteht, also die Gefahr von irreparablen Schäden für die palästinensische Bevölkerung. Im Hauptverfahren wird sich das Gericht dann der enorm schwierigen und komplexen Herausforderungen stellen und die Beweise für eine Völkermordabsicht prüfen müssen. 

In der Gemengelage von kriegerischen Auseinandersetzungen und vor allem hinsichtlich des politischen sowie historischen Kontexts des Konflikts wird es das Gericht extrem schwer haben, dokumentierte Handlungen und Aussagen auszuwerten und diese präzise unter den rechtlichen Absichtstatbestand zu subsumieren. Außerdem warnen Stimmen davor, dem Konflikt, der eigentlich politischer und territorialer Natur sei, eine gerichtliche Lösung aufzustülpen. Vielmehr bedarf es diplomatischer Bemühungen und Verhandlungen zwischen den betroffenen Parteien. Allerdings zeigt die Vergangenheit, dass die betroffenen Parteien bislang nicht fähig waren, den Konflikt nachhaltig zu lösen und nun wieder in einen existenziellen Kampf zurückfallen. Die gerichtliche Aufarbeitung kann daher ein erster Ansatz sein, um Verantwortungs- und Gerechtigkeitsdefizite objektiv rechtlich zu klären und dessen Ergebnis wiederum in den Ring für zwischenparteiliche Verhandlungen geworfen werden kann. 

Ist das Vorgehen Israels in Gaza mit dem Völkerrecht zu vereinbaren?

Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst zwischen dem Friedensvölkerrecht und dem humanitären Völkerrecht unterschieden werden. Letzteres gilt, wenn ein bewaffneter Konflikt besteht, also ein Krieg. Nach dem Friedensvölkerrecht ist die Anwendung von Gewalt, außer im Fall einer Selbstverteidigung, strikt verboten. Muss sich ein Staat, wie im Fall von Israel, gegen einen bewaffneten Angriff verteidigen, dann ist die Gewaltanwendung als Verteidigungshandlung gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig ist. Der Umfang und die Auswirkungen des Selbstverteidigungsschlags dürfen also nicht außer Verhältnis zum Erstschlag, dem Angriff der Hamas, stehen. Das bestimmt sich objektiv nach rechtlichen Maßstäben, nämlich Art und Intensität der Kampfführung, eigener Schadensbilanz und zu erwartender Schäden beim Erst-Angreifer. Angesichts der hohen Opferzahlen von 35.000 toten Menschen [Anmerkung der Redaktion: Quelle: www.ochaopt.org/], darunter eine sehr hohe Zahl Kinder und Frauen sowie die gezielte Zerstörung von Krankenhäusern, Bildungs- und Kultureinrichtungen und ziviler Infrastruktur, liegen Verstöße gegen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts nahe, letztlich hängt die finale Bewertung aber vom spezifischen Einzelfall ab. 

Ein Ausweg aus der deutschen Zwickmühle könnte [...] darin liegen, dass Israel innerstaatlich die entsprechenden Verbrechen ernsthaft verfolgt und gerichtlich aufarbeitet.

Lisa Wiese

Welche Auswirkungen könnte der Haftbefehl beim Internationalen Strafgerichtshof gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu auf Deutschland haben? Müsste er eine Auslieferung fürchten, wenn er Deutschland besucht?

Sollten die drei Richterinnen der Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs dem Antrag des Chefanklägers stattgeben und einen Haftbefehl gegen Israels Premierminister Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Galant erlassen, dann sind aus rechtlicher Sicht alle 124 Staaten, die sich der Gerichtsbarkeit des IStGH unterworfen haben - darunter Deutschland - daran gebunden. Das bedeutet, dass Deutschland den Premier festnehmen und nach Den Haag, dem Sitz des IStGH, ausliefern müsste, wenn er nach Deutschland reist. 

Dass der Haftbefehl durch den IStGH ausgestellt wird, ist nicht zwingend, aber sehr wahrscheinlich, weil sehr viele Beweise vorliegen. Allerdings geht es hier nicht um den Vorwurf des Genozids, sondern um andere Völkerstraftaten: Kriegsverbrechen wie das Aushungern der Zivilbevölkerung als Mittel der Kriegsführung, vorsätzliche Tötungen und grausame Behandlungen, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Verfolgung und anderen unmenschliche Handlungen. 

Die Bundesregierung ist grundsätzlich große Unterstützerin des IStGH und der internationalen Strafgerichtsbarkeit zur Schließung von Verantwortungsdefiziten. Gleichzeitig bedeutet die deutsche Staatsräson, für den Schutz und die Sicherheit Israels einzustehen. Schon mehrfach hat die Bundesregierung insbesondere seit dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober ihre volle Solidarität und Unterstützung für Israel versichert. 

Bei der Regierungspressekonferenz vom 22. Mai 2024 hat der Regierungssprecher Hebestreit auf Nachfragen zur Umsetzung von Entscheidungen des IStGH gesagt, die Bundesregierungen werde sich natürlich an „Recht und Gesetz“ halten. Ob es tatsächlich zu einer Auslieferung von Premierminister Netanjahu kommen wird, ist letztlich ein Sachverhalt mit politischer Dimension und daher von entsprechenden Fachleuten aus Politik einzuschätzen.  

Ein Ausweg aus der deutschen Zwickmühle könnte aber eventuell darin liegen, dass Israel innerstaatlich die entsprechenden Verbrechen ernsthaft verfolgt und gerichtlich aufarbeitet. Dann würde der Grundsatz der Komplementarität greifen, wonach der IStGH nicht tätig werden darf, wenn ein Staat willens oder in der Lage ist, bestimmte schwere Straftaten ernsthaft zu verfolgen. Allerdings zeigt die israelische Reaktion, die Verurteilung und Zurückweisung des drohenden Haftbefehls, dass eine strafrechtliche Verfolgung äußerst unwahrscheinlich ist, da man sich keiner Schuld bewusst ist. 

Kommentare

Keine Kommentare gefunden!

Ihr Kommentar

Hinterlassen Sie gern einen Kommentar. Bitte beachten Sie dafür unsere Netiquette.