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Wir setzen unsere Reihe fort, in der wir Wissenschaftler:innen der Universität Leipzig aus verschiedenen Fachrichtungen zu Themen aus Forschung und Lehre zum Nahost-Konflikt zu Wort kommen lassen. Diesmal haben wir Protestforscher Dr. Alexander Leistner vom Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig interviewt. Eine unserer Fragen: „Landwirte, die mit Traktoren Autobahnauffahrten blockieren, Klimaaktivist:innen, die sich auf die Straße kleben, Pro-Palästina-Gruppen, die Hörsäle besetzen – erleben wir eine neue Protestkultur?“ Seine Antwort: „Ja und nein.“ Dies erläutert er mit Beispielen, und er äußert sich auch zum Begriff „eskalierender Protest“.

Herr Leistner, wieso sind aktuell so viele Menschen so aufgebracht, so scharf in ihrem Protest, mitunter zu Sachbeschädigung bereit?

Ich würde eher von einer Aufmerksamkeitsverschiebung sprechen. Protest ist etwas Alltägliches, quasi ein Grundrauschen der Demokratie, aber nur ein Bruchteil davon bekommt überhaupt mediale Aufmerksamkeit. Seit Jahresbeginn hatten wir aber sehr unterschiedliche Protestphänomene, die erhebliche Aufmerksamkeit bekommen haben, auch weil sie gesellschaftliche Großkonflikte spiegeln: die Bauernproteste im Kontext diffuser Unzufriedenheiten mit der Bundesregierung, die großen Demokratie-Demonstrationen gegen die Radikalisierung und Stärke der AfD und schließlich die Pro-Palästina-Proteste im Kontext der antagonistischen Lagerbildung innerhalb der Nahostdebatte. 

Nur bei einem Teil der Proteste würde ich eine besondere „Schärfe“ beobachten. Das liegt beim Nahostkonflikt in der Emotionalisierung, der Eskalation des Konflikts selbst und auch darin, dass sich ein Gelegenheitsfenster geöffnet hat, die Entwicklungen im Nahen Osten in erheblichem Maße und zum Teil auch sehr einseitig zu skandalisieren. 

Ein wachsendes Strafbedürfnis auf der Straße.

Dr. Alexander Leistner

Beunruhigend war für mich der Verlauf der Bauernproteste. In Teilen verbanden sich diese Proteste mit einer ganz grundsätzlichen Kritik am politischen System und schürten auch noch mal weitere größere Deutungshorizonte: etwa die Erwartung, dass jetzt ein Generalstreik bevorstünde oder ähnliches. Ich würde auch in keinem Fall unterschätzen, wie üblich mittlerweile ein „Galgen“ als Protestmittel geworden ist – nicht erst bei den Bauernprotesten. 

Wir beobachten hier eine wachsende Punitivität, ein wachsendes Strafbedürfnis auf der Straße: Proteste, wo es viel um die Sanktionierung und Bestrafung von individuellen Verantwortungsträger:innen geht. Erst war das Christian Drosten, dann Robert Habeck.

Oft ist in der Berichterstattung von „eskalierendem Protest“ die Rede. Gibt es dafür eine Definition? Wann würden Sie einen Protest so beschreiben?

Der Begriff hat unterschiedliche Dimensionen und auch Verwendungsweisen. Er kann den Umschlag in Gewalt beschreiben oder etwas diffuser die Steigerung einer Konfliktintensität. In der Öffentlichkeit werden Zuspitzungen von Protesten deutlich unterhalb der Gewaltschwelle oft vorschnell schon als Eskalation beschrieben. 

Die Protestforschung selbst verwendet den Begriff einerseits eng – bezogen auf Gewaltausübung – und gleichzeitig breiter, in dem Sinne, dass es bei Eskalation um eine Wechselwirkung zwischen Aktivist:innen, der Polizei, Medienschaffenden, Unbeteiligten oder politisch Verantwortlichen geht. In diesem Sinne sind beispielsweise auch die Proteste der „Letzten Generation“ eskaliert – gemeint sind dann aber die gewaltsamen Übergriffe von Verkehrsteilnehmer:innen auf die Aktivist:innen. 

Bei Eskalation geht es also um Situationsdynamiken, die oft unberechenbar sind. Als ich Anfang des Jahres mit Studierenden eine Großdemonstration der „Freien Sachsen“ in Dresden teilnehmend beobachtet habe, konnte man das sehr eindrücklich nachvollziehen. Dort entstand - durch Reden und Falschinformationen über vermeintliche Polizeiübergriffe angeheizt - kurzzeitig eine gewaltgeladene Atmosphäre, sodass für diesen situativen Moment nicht auszuschließen war, dass aus der Demonstration heraus die Sächsische Staatskanzlei gestürmt wird. Das lag zwischenzeitlich quasi in der Luft.

Es gibt Proteste, die überhaupt nicht herausfallen aus dem Spektrum dessen, was man aus der Protestgeschichte kennt.

Dr. Alexander Leistner

Landwirte, die mit Traktoren Autobahnauffahrten blockieren, Klimaaktivist:innen, die sich auf die Straße kleben, Pro-Palästina-Gruppen, die Hörsäle besetzen – erleben wir eine neue Protestkultur?

Ja und nein. Es gibt Proteste, die überhaupt nicht herausfallen aus dem Spektrum dessen, was man aus der Protestgeschichte kennt – nur das sie vielleicht mehr Aufmerksamkeit bekommen und Teil überhitzter Debatten werden. Und dann kann man gewisse neue Qualitäten beobachten. 

Die Demokratie-Proteste Anfang des Jahres gehören zu den größten in der Geschichte der Bundesrepublik. Sowohl in absoluten Zahlen, aber auch in der flächendeckenden Ausbreitung. 

Aber auch in den Bauerprotesten zeigt sich etwas Neues, nämlich dass die Drohkulisse blockierter Straßen dazu führte, dass politische Entscheidungen quasi über Nacht teilweise zurückgenommen wurden. Das waren eben keine Proteste von marginalisierten Gruppen, die sich nicht anders zu helfen wissen. Die Bauernverbände sind ja ungleich einflussreicher, im Bereich der Landwirtschaft politikbestimmend – ganz im Gegensatz beispielsweise zum Verband alleinerziehender Mütter und Väter. Hier besteht schon die Gefahr, dass sich auch bei Straßenprotesten ein Recht des Stärkeren einspielt – platt gesagt: dass erfolgreich ist, wer den größten Traktor hat.

Inwieweit sind solche Protestformen erfolgversprechend?

Proteste sind vor allem dann erfolgreich, wenn sie öffentlich wahrgenommen werden und – wie bei den Bauernprotesten – Resonanz finden in den Unmutswahrnehmungen größerer Teile der Bevölkerung. 

Besonders schwer haben es denn auch Proteste, die gegen eine bestimmte gesellschaftliche Stimmung ankämpfen und wachrütteln wollen. Sie gehen tendenziell unter in dem schon beschriebenen Grundrauschen vielfältigster Proteste. In diesem Jahr gab es beispielsweise bundesweit sogenannte „Liegend-Demos“ von Betroffenen von ME/CFS (chronisches Erschöpfungssyndrom, d. Red.) und Long-Covid Erkrankten, die kaum wahrgenommen wurden. Auch weil Klimaschutz oder die gesundheitlichen Folgen von COVID-19 Themen sind, wo Abwehrreaktionen besonders stark ausgeprägt sind.

Was macht Universitäten aus der Sicht der Aktivist:innen zu besonders geeigneten Protestorten?

Es gibt immer noch, aber schon deutlich verblasst eine historische Bedeutungsaufladung der Institution – vor allem durch die internationale Studentenbewegung der 1960er Jahre. Entgegen solcher Bilder und Mythen von Universitäten als Ort der Unruhe und Revolte sind Proteste an Universitäten in den letzten Jahren gar nicht unbedingt so häufig und meist gibt es genuin hochschulpolitische Anlässe: Entscheidungen der Hochschulleitung oder der Landesregierung. 

Im Moment häufen sich Hochschulbesetzungen durch Pro-Palästina-Gruppen, die in meinen Augen direkte Nachahmungen von Aktionen vor allem an US-amerikanischen Hochschulen sind. Diese Besetzungen berühren einerseits Konfliktlinien innerhalb der Universität, die vorher vielleicht nur durch symbolische Reviermarkierungen mittels Stickern auf den Toiletten sichtbar waren. Aber mein Eindruck ist anderseits nicht, dass es Proteste sind, die im Kern und in wesentlichen Teilen aus der Studierendenschaft organisiert und von ihr getragen werden. Die Universität dient mehr als Bühne für Proteste, die sich im Einklang sehen mit Vorbildern in den USA und genährt sind von der Erwartung, dass Proteste hier ähnliche Dimensionen bekommen. Das aber sehe ich – zumindest in Leipzig – nicht.

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