Nach Polizeiangaben hatten 13 Personen im Alter von 19 bis 34 Jahren den größten Uni-Hörsaal besetzt. „Die Tatverdächtigen hatten die Zugangstüren von innen mit Kabelbindern verschlossen. Überdies blockierten über 30 Personen die vier Zugänge“, heißt es in der Polizeimeldung. „Gegen die 13 Personen wird wegen des Verdachts des Hausfriedensbruches ermittelt. Zudem leisteten mehr als ein Dutzend Personen Widerstand bei den Handlungen der Polizei, sodass hier ebenfalls Strafverfahren eingeleitet wurden. Im Umfeld der Universität und auf dem Gelände selbst wurden mehrere Graffiti festgestellt, die zu mehreren Anzeigen wegen Sachbeschädigung führten. Zusammen mit den bisher aufgeführten Strafanzeigen und Verstößen gegen das Sächsische Versammlungsgesetz (Vermummung, etc.) wurden über 30 Strafverfahren eingeleitet.“
Eine spontan als Versammlung angemeldete Demonstration auf dem Uni-Innenhof konnte bis 22 Uhr stattfinden. Gegen 23 Uhr, nachdem alle Personen gegangen waren, wurde das Gelände verschlossen.
Eine ebenfalls von der Polizei aufgelöste Besetzung gab es am gleichen Tag an der Freien Universität Berlin. Protestcamps laufen an den Universitäten in Bonn und Köln, an US-Universitäten haben sich in den vergangenen zwei Wochen Pro-Palästina-Proteste stark ausgebreitet.
Herr Professor Pickel, sind diese Aktivitäten antisemitisch motiviert?
Zuerst zu sagen ist, dass es sich immer um Minderheiten und teilweise sogar übersichtliche Gruppen von Aktivist:innen handelt. So waren in der jüngsten Audimax-Besetzung mit Protestcamp etwa 40 bis 60 Personen beteiligt. Die derzeit beobachtbaren Aktivitäten an Universitäten sind von dem Gros der Beteiligten in erster Linie gegen das israelische Vorgehen in Gaza gerichtet und als propalästinensische Solidarität gedacht.
Das Problem ist, dass sich relativ schnell antisemitische Aussagen und Verallgemeinerungen in den Protest einschleichen. Dabei werden kulturelle Codes des Antisemitismus wie auch langlebige Verschwörungserzählungen, beispielsweise die Kindermorderzählung oder die Macht der Juden und Jüdinnen in den wirtschaftlichen und politischen Eliten zum Beispiel der USA, reaktiviert.
Die Konsequenz ist ein immer wieder in pro-palästinensischen Gruppen auftauchender israelbezogener Antisemitismus, der eine anfangs vielleicht konkrete und in Punkten durchaus berechtigte Israelkritik hinter sich lässt. Vor allem die Verschiebung der Argumentation von einer auf konkrete Maßnahmen der israelischen Regierung und Armee bezogenen Kritik hin zu allgemeinen, aber den allgemein gültigen Definitionen nach ungedeckten Vorwürfen des Genozids oder der Apartheid, bei gleichzeitiger Ausblendung der Verbrechen der Hamas, öffnet die Tür für Antisemitismus.
Der Senat hat im Dezember erklärt, er begrüße die Maßnahmen und Bestrebungen der Universität gegen Antisemitismus und Rassismus. Natürlich stellt sich aber immer wieder die Frage: Was ist Antisemitismus? Das Rektorat hat sich kürzlich auch dazu ausgetauscht. Wie sieht die Definition aus?
Als Orientierungshilfe für die Einschätzung von Antisemitismus kann man die Arbeitsdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) verwenden. Sie wird auch seitens der Bundesregierung eingesetzt. Wichtig ist: Bei der IHRA-Definition handelt es sich um eine Arbeitsdefinition und keine rechtliche Grundlage. Das heißt, man muss immer den Einzelfall betrachten. Versuche, wie in der Jerusalem Deklaration, der gelegentlich kritisierten Einseitigkeit der IHRA-Definition entgegenzutreten, haben eher zu einer Aufweichung und noch schwammigeren Formulierung von Antisemitismus in der Jerusalem Definition geführt.
Der zentrale Streitpunkt in Antisemitismusdefinitionen ist fast immer der israelbezogene Antisemitismus. Sehen die einen jede negative, auf Israel bezogene Aussage generell als Israelkritik, wird von Antisemitismusforscher:innen auf die über Israel verlaufende antisemitische Umwegkommunikation verwiesen. Man hat die Chance, sich immer wieder darauf zurückzuziehen, dass man Israel ja nur kritisiert hat und kein:e Antisemit:in ist.
Als Orientierungsregel für die Unterscheidung von Israelkritik und israelbezogenen Antisemitismus hat sich die sogenannte 3-D-Regel von Nathan Sharansky etabliert, in dem Aussagen zu Israel dann als Antisemitismus einzustufen sind, wenn doppelte Standards verwendet werden, also man Israel für etwas kritisiert, was man an anderen Staaten nicht kritisiert, wenn das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird oder wenn Israel mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Es geht also um Doppelstandards, Delegitimierung oder Dämonisierung.
Teilweise wird noch, zum Beispiel vom European Monitoring Center on Racism and Xenophobia, die Verantwortlichmachung von Juden in der ganzen Welt für die Taten Israels sowie die Verwendung antisemitischer Bilder und Floskeln für Israel hinzugefügt. Die Studien der Leipziger Autoritarismus-Studie bestätigen die enge Verbindung zwischen israelbezogenem Antisemitismus und anderen Spielarten des Antisemitismus auf der Ebene der Ressentiments in der Bevölkerung.
Wie erleben Sie die Stimmung an der Universität Leipzig in Bezug auf den Nahost-Konflikt? Und welche Möglichkeiten des Dialogs sehen Sie, wie kann der Diskurs gelingen?
Derzeit ist die Stimmung in dieser Debatte leider stark aufgeheizt. Es dominiert die ideologische Identifikation mit der Gruppe. Unter den Beteiligten an pro-palästinensischen Aktionen zeigt sich ein hoher Mobilisierungsgrad. Dies konnte auch eine Studie des Bundesinnenministeriums durch die Universität Konstanz zeigen. Gleichzeitig besteht nur eine begrenzte Auseinandersetzung mit der Differenziertheit der Situation und den Argumenten derjenigen, die dem propalästinensichen Aktivist:innen Antisemitismus vorwerfen. Eher gibt es Abwehrbewegungen gegen jegliche Form der Kritik.
Nun ist es das gute Recht jeder Gruppe in Deutschland, ihre Position und Meinung zu vertreten. Sie gerät aber an ihre Grenzen, wenn es zu Rechtsverletzungen kommt und wenn die Rechte anderer Bürger:innen betroffen sind. Derzeit leiden gerade jüdische Mitglieder unserer Universität unter der aufgeheizten Stimmung, sie bereitet ihnen Angst. An dieser Stelle würde ich mir eine stärkere Sensibilität hinsichtlich zum Beispiel der eigenen Kommiliton:innen wünschen. Ein Diskurs kann dabei nur gelingen, wenn die Beteiligten die Differenziertheit der Situation in Nahost und in Gaza, wie auch direkt hier an ihrer Universität akzeptieren lernen. Genau solch ein differenzierter Diskurs sollte eigentlich gerade an Universitäten möglich sein.
Kommentare
Keine Kommentare gefunden!