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Wir setzen unsere Reihe fort, in der wir Wissenschaftler:innen der Universität Leipzig aus verschiedenen Fachrichtungen zu Themen aus Forschung und Lehre zum Nahost-Konflikt zu Wort kommen lassen. Diesmal haben wir Markus Dreßler interviewt, Heisenberg-Professor für Moderne Türkeiforschung am Religionswissenschaftlichen Institut. Er sagt: „Religion spielt vor allem eine legitimierende und motivierende Rolle im Nahostkonflikt, aber der Konflikt selbst ist kein Religionskonflikt.“ Und: „Der Blick über den Tellerrand hilft vielleicht schon, Antisemitismus – sowohl den muslimischen und vielleicht auch den deutschen – etwas besser zu verstehen.“ Er äußert sich auch zu Israel-kritischen Demonstrationen von Studierenden.

Welche Rolle spielt die Religion aktuell im Nahost-Konflikt?

Im Nahost-Konflikt, also dem Konflikt zwischen Israel und Palästinenserinnen und Palästinensern sowie sich daraus ergebenden Spannungen zwischen Israel und den muslimischen Staaten der Region, spielt die Religion eine nur untergeordnete Rolle. Es geht zunächst um konträre Ansprüche bezüglich Territorium und Souveränität Israels und der Palästinenserinnen und Palästinenser, konkret um die von Israel besetzten Gebiete, also Ost-Jerusalem, die Westbank, Gaza und die Golanhöhen. Darüber hinaus geht es um die Folgen, die global spürbar sind – obwohl sie zunächst die Palästinenserinnen und Palästinenser zu tragen haben, vor allem die Millionen von Flüchtlingen, die zum Teil in der dritten Generation und als Staatenlose auch die Gesellschaften angrenzender Staaten wie des Libanon und Jordaniens stark prägen. 

Religion wird bei dem Konflikt wichtig, wenn es darum geht, bestimmte Positionen zu legitimieren oder Solidarität zu erzeugen. Ein Beispiel ist, wenn religiöse Juden aus der Thora Ansprüche auf ganz Palästina ableiten und sich diese Rhetorik, wie in der aktuellen israelischen Regierungskoalition, mit extremnationalistischen Positionen trifft. Auch die Ablehnung des Zionismus durch Orthodoxe Jüdinnen und Juden ist ein religiöser Faktor, funktioniert allerdings in die entgegengesetzte Richtung, insofern sie den nationalistischen Anspruch auf Israel zurückweist. Für Palästinenser:innen, Muslime wie Christen, geht es um Land und politische Rechte, nicht um Religion. Dass sich der palästinensische Widerstand gegen die israelische Besatzung heute am stärksten über einen militanten Islamismus – wie im Fall der Hamas – äußert, ist Produkt unterschiedlicher Faktoren, insbesondere aber des Scheiterns des säkular-arabischen Nationalismus. Der Islamismus ist dabei in erster Linie ein politisches Projekt, der seine Feinde – in diesem Fall Israel und die es unterstützende westliche Allianz – religiös markiert und den politischen Widerstand bis zu terroristischen Methoden islamisch verbrämt und legitimiert. Daneben ist Religion wichtig in der global wirksamen muslimischen Solidarisierung mit den Palästinensern. Das palästinensische Schicksal wird als das Schicksal muslimischer Glaubensbrüder und -schwestern gedeutet. Dieses Motiv kann sich im Islamismus mit einem antiwestlichen Diskurs und der Theorie einer westlich-jüdischen Verschwörung gegen die Muslime überlagern. Religion spielt also vor allem eine legitimierende und motivierende Rolle im Nahostkonflikt, aber der Konflikt selbst ist kein Religionskonflikt.

Sie beschäftigen sich stark mit „Religion und Politik in der Türkei“, aber auch mit religiösen Minderheiten und Minderheitendiskursen im Nahen Osten. Antisemitismus ist aktuell hierzulande ein großes Thema, Islamfeindlichkeit aber auch. Lassen sich in der Türkei und Ländern der Nahost-Region entsprechende Strömungen finden? 

Judenfeindlichkeit begann im Osmanischen Reich in Palästina mit der Ansiedlung von Jüdinnen und Juden Ende des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurden europäische antisemitische Stilfiguren importiert. Dieser Antisemitismus war zunächst eine Randerscheinung, da die osmanischen Angehörigen des Judentums, im Gegensatz zu armenischen und griechisch-orthodoxen Angehörigen des Christentums, keine nationalistischen und separatistischen Bestrebungen verfolgten und deshalb noch in der frühen Republik als die „loyale Religionsgruppe“ bezeichnet wurden. Da der türkische Nationalismus in der 1923 gegründeten Republik Türkei nationale Homogenität in Bezug vor allem auf Sprache und Religion als wichtiges Kriterium für den Fortbestand der – implizit muslimischen – Nation definierte, wurden schon in den 1920er Jahren neben den Christen auch Juden diskriminiert. 

Ein spezifisch türkischer Antisemitismus entwickelte sich in den 1930er Jahren. Er war vom europäischen Antisemitismus beeinflusst, entwickelte aber in seinen nationalistischen und islamistischen Ausprägungen eine eigene Note mit Bezug zur osmanisch-türkischen Geschichte. Schon 1934 gab es in mehreren Städten Westthrakiens antijüdische Pogrome. Wie in Deutschland finden sich antisemitische Elemente in der Türkei vom rechten bis zum linken und vom säkularen bis zum religiösen Lager, sind aber vor allem im extrem-nationalistischen sowie im islamistischen Lager besonders virulent. Soweit ich das überblicke, bedient sich der türkisch-nationalistische Antisemitismus stärker rassistischer Motive, während sich der islamistische Antisemitismus aus dem Nahostkonflikt speist. Die Israelkritik Erdoğans und der Regierungspartei AKP sind Teil des islamistischen Diskurses, und antisemitische Figuren werden auch hier regelmäßig aktiviert. Allerdings spielen religiöse Argumentationsfiguren in antisemitischen Diskursen der Türkei wenn überhaupt nur eine sekundäre Rolle. Man darf nicht vergessen, dass Juden und Christen als Träger der abrahamitischen Religionstradition im Koran zwar als Schriftverfälscher dargestellt werden, ihnen aber doch eine Teilhabe am Offenbarungsprozess zugestanden wird, weshalb sie unter muslimischer Herrschaft als „Schutzbefohlene“ legitime Mitglieder islamischer Staatswesen waren.

Wie kann man damit umgehen? Welche Lehren können wir gegebenenfalls daraus in Deutschland ziehen, außenpolitisch, aber auch für die Diskurse und den Umgang mit Protesten bei uns?

Der Blick über den Tellerrand hilft vielleicht schon, Antisemitismus –­ sowohl den muslimischen und vielleicht auch den deutschen – etwas besser zu verstehen. In Deutschland denkt man bei Antisemitismus natürlich zunächst an die deutsche Geschichte und assoziiert mit dem Begriff eine bestimmte Form des anti-jüdischen Rassismus, bei dem sich christliche und säkulare Verschwörungsmythen verbinden und die Vernichtung der Jüdinnen und Juden als solche angestrebt wird. 

Es ist falsch, diese Perspektive eins-zu-eins auf muslimischen Antisemitismus zu übertragen, das führt zu Missverständnissen. Auch in der Türkei gab es im Zuge der israelischen Angriffe auf den Gaza verstärkt antisemitische Reaktionen, keine Frage, und es gibt – vor allem, aber nicht nur – in der extremen Rechten antisemitische Tendenzen die sich immer wieder auch schon in Gewalt gegen Juden und Jüdinnen im Land manifestiert haben, zum Beispiel 1934. Gleichzeitig wird aber in der Regel zwischen israelischem Staat und Jüdinnen und Juden im eigenen Land unterschieden. Das heißt, jemand der gegen Israel ist, dabei vielleicht sogar so weit geht, Israel als Staat das Existenzrecht abzuschreiben, ist nicht notwendigerweise gegen Angehörige des Judentums im eigenen Land oder sonst wo. Auch solche generelle Judenfeindlichkeit gibt es zwar, aber der antiisraelische und der antijüdische Diskurs sind eben nicht deckungsgleich. 

Aus der deutschen Perspektive, die immer den Holocaust mitdenkt, wird die Fundamentalkritik an Israel oft schon als antisemitisch angesehen.

Prof. Dr. Markus Dreßler

Aus der deutschen Perspektive, die immer den Holocaust mitdenkt, wird die Fundamentalkritik an Israel oft schon als antisemitisch angesehen. Es wird hier nicht zwischen politischen und rassistischen Motiven unterschieden, weil beide zusammen gedacht werden. Den Begriff des Antisemitismus auch auf rein politische, gegen Israel gerichtete Positionen anzuwenden, ist zwar in Deutschland ganz besonders ausgeprägt, aber auch in internationalen Diskursen der westlichen Hemisphäre weit verbreitet. 

Er ist meiner Meinung nach allerdings wenig hilfreich, da er nicht hilft zu differenzieren und deshalb auch nicht hilft, die jeweiligen Motivationen und Haltungen zu verstehen. So werden auch anti-zionistische Juden, die sich dem israelischen Nationalismus entgegenstellen, oft mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert. Ich finde es hingegen wichtig, zwischen politischen Argumenten gegen Aspekte der israelischen Politik und essentialisierenden rassistischen Argumenten gegen Juden zu unterscheiden, und diese jeweils historisch zu kontextualisieren. Es handelt sich hier eben um ein Spektrum von Positionen, die man nicht vorschnell als Kontinuität abtun sollte. Deshalb würde ich immer für eine Anwendung der Antisemitismus-Definition der Jerusalemer Erklärung plädieren, die Kritik an Israel ausdrücklich als legitim erachtet und den Begriff des Antisemitismus für Stereotypen und Argumentationsfiguren verwendet, die sich gegen Juden an sich richten. 

Lesen Sie hierzu gern auch unser Interview mit dem Antisemitismus-Beauftragten der Universität Leipzig, Prof. Dr. Gert Pickel, der die Arbeitsdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) als Orientierungshilfe nennt, die auch von der Bundesregierung genutzt wird. Pickel sagt unter anderem: "Versuche, wie in der Jerusalem Deklaration, der gelegentlich kritisierten Einseitigkeit der IHRA-Definition entgegenzutreten, haben eher zu einer Aufweichung und noch schwammigeren Formulierung von Antisemitismus in der Jerusalem Definition geführt."

Wie thematisieren Sie den Krieg in Gaza aktuell in Ihrer Lehre? 

Momentan gar nicht. Aber für das nächste Sommersemester plane ich mit Kolleg:innen aus der Ethnologie eine Veranstaltung, die den Nahostkonflikt thematisieren soll. 

Wie groß ist das Interesse bei den Studierenden? 

Mein Eindruck ist, dass es ein großes Interesse gibt, auch wenn viele sich nicht trauen, sich direkt zu dem Konflikt zu äußern. Vor allem für Studierende mit muslimischem Hintergrund ist es oft schwer zu verstehen, warum israelisch-kritische Stellungnahmen im Kontext des Gaza-Krieges antisemitisch sein sollen. 

Aktuell gibt es ein von der Stadt Leipzig genehmigtes Pro-Palästina-Camp in der Linnéanlage an der Schillerstraße. Im Mai gab es die Demonstration auf dem Uni-Innenhof und die Besetzung des Audimax. Erstere konnte stattfinden, letztere wurde von der Polizei beendet. Unter den Besetzer:innen waren fünf Studierende. 

Durch die Besetzung des Audimax am 7. Mai nebst Demonstration im Innenhof des Campus und seit Montag im Protestcamp in der Lennéanlage positionieren sich Studierende unserer Universität öffentlich gegen den israelischen Angriff auf Gaza. Dies und auch die Reaktion pro-israelischer Gegendemonstranten während der Aktion am 7. Mai zeigen, dass es auch in Teilen der Studentenschaft rumort.

Den Israel-kritischen Demonstranten und Audimax-Besetzern wurde vor allem vorgeworfen, dass sie Israel des Genozids beschuldigten. Neben Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und einer Bedrohung der Sicherheit für Studierende und Lehrende wurden in diesem Zusammenhang implizit auch Antisemitismusvorwürfe vorgebracht (Anmerkung der Redaktion: Rektorin Prof. Eva Inés Obergfell hat sich am 7. Mai auf die gewaltsame Störung und die Eskalation bezogen, nicht auf Protestinhalte, nachzulesen in der Pressemitteilung der Universität an diesem Tag). 

Meines Wissens ging von der kleinen Gruppe der BesetzerInnen und Demonstranten auch keine ernsthafte Gefahr für uns andere aus. Deshalb habe ich auch kein Verständnis für die Reaktion der Universitätsleitung, die nicht nur unverzüglich die Polizei verständigte und den Audimax räumen ließ, sondern auch Strafanzeige gegen die 13 Besetzerinnen stellte. Man hätte hier meines Erachtens zunächst das Gespräch suchen sollen, auch wenn die Aktion nicht angemeldet war. Politische Proteste an deutschen Hochschulen haben eine lange Tradition, sind – wenn auch oft radikaler – Teil des demokratischen Diskurses. Diesen gilt es auch in schwierigen Zeiten unbedingt zu erhalten. Dass das Stura-Plenum der Universität Leipzig sich hier jetzt klar positioniert hat, die Zurücknahme der Strafanzeigen gegen die beteiligten Studierenden und offeneren Dialog seitens der Universitätsleitung einfordert, begrüße ich deshalb nachdrücklich – womit ich nicht unterstellen möchte dass die Universitätsleitung nicht an Dialog interessiert ist. Auch unter der Professor:innenschaft, im Mittelbau und der Verwaltung gibt es hinsichtlich der Frage des Umgangs der Universität mit Protesten einen teils intensiven Austausch. Ich denke wir müssen uns alle dafür einsetzen, Räume zum kritischen Austausch auch in schwierigen Fragen offen zu halten. 

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