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Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine am 24.02.2022 häufen sich an unserer Universität nicht nur die Beratungsanfragen von Studierenden mit Fluchterfahrung. Auch ukrainische Wissenschaftler:innen treten mit unterschiedlichen Anliegen zunehmend in Kontakt mit der Universität Leipzig. Im Fall von Prof. Dr. Carmen Bachmann, Inhaberin der Professur für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät und Initiatorin der Konferenz Chance for Science, sind das vor allem Ukrainer:innen, die aus der Ukraine heraus auf der Suche nach Forschungspartner:innen in Deutschland sind. Antje Schöne hingegen berät an der Stabsstelle Internationales geflüchtete ukrainische Wissenschaftler:innen, die an der Universität Leipzig Fuß fassen wollen. Im Interview mit dem Universitätsmagazin erzählen die beiden davon, wie kleinteilig und individuell ihre Arbeit im Hinblick auf die Fülle an Anfragen ist und an welche Gänsehautmomente sie oft zurückdenken müssen.

Wie haben sich Ihre Aufgaben seit dem 24. Februar 2022 verändert?

Carmen Bachmann: An sich haben sich meine Arbeitsaufgaben gar nicht verändert, denn ich bin eigentlich Professorin für Steuerlehre. Nebenbei engagiere ich mich jedoch ehrenamtlich im Projekt „Chance for Science“, einem sozialen Netzwerk, das darauf abzielt, geflüchtete Wissenschaftler:innen, Akademiker:innen und Studierende mit deutschen Forschungseinrichtungen zu vernetzen. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben sich nun zahlreiche ukrainische Wisssenschaftler:innen bei mir gemeldet. Im Vergleich zu den syrischen und türkischen geflüchteten Wissenschaftler:innen damals sind es nun sehr viel mehr und sie sind nicht hier in Deutschland, sondern zum großen Teil noch in der Ukraine.

Ich habe mit Menschen zu tun, die in einem Kriegsgebiet sitzen, deren Kolleg:innen geflohen sind, aktuell an der Front kämpfen oder aber im Krieg gestorben sind. Dadurch haben diese Ukrainer:innen ein ganz starkes Bedürfnis danach, sich zu vernetzen, denn sie wollen weitermachen auf ihrem Fachgebiet und suchen dafür neue Partner:innen für einen Austausch „on remote“. Ich bemerke, dass sie eine große Angst vor einer Atomisierung ihrer Wissenschaft haben. Sie befürchten, dass sich die gesamte ukrainische Wissenschaft irgendwo verstreut und ihr eigentlich starkes Forschungsland so langsam zerbricht.

Insgesamt hat diese Zielgruppe für mich eine neue Qualität im Umgang mit dem Chance-for-Science-Projekt mit sich gebracht, denn früher hatte ich mit Menschen in Deutschland zu tun, die nach ihrer Flucht hier in Sicherheit waren, heute mache ich mir Sorgen, wenn ich auf eine E-Mail keine Antwort bekomme und hoffe, dass vor Ort alles okay ist.

Antje Schöne: An der Stabsstelle Internationales beschäftige ich mich schon seit zehn Jahren mit aus dem Ausland zu uns kommenden Studierenden. Seit Februar erreichten uns nun vermehrt Anfragen geflüchteter ukrainischer Wissenschaftler:innen, die wissen wollten, welche Chancen sie nach der Flucht haben, hier an der Uni weiter zu machen. Der sich dadurch ergebende erhöhte Beratungsbedarf führte dazu, dass ich mich nun ganz neu auch mit dieser Zielgruppe beschäftige.

Die ukrainischen Wissenschaftler:innen wollen beispielsweise von mir wissen, wie sie es schaffen können, hier wissenschaftlich Fuß zu fassen, wo sie dafür eine geeignete Förderung bekommen können, ob die Uni Möglichkeiten hat, für sie Stellen zu schaffen, welchen Aufenthaltstitel sie benötigen oder aber auch, wie sie am besten ihre Familie mit nach Deutschland holen können.

Das alles sind Themenfelder, in die ich mich teils neu einarbeiten musste und in denen ich mich natürlich fortlaufend auf dem neusten Stand halten muss, damit ich auch entsprechend professionell beraten kann. Im Vergleich zu den Bedarfen internationaler Studierender, die genau wissen, dass sie hier studieren wollen, ist der Bereich der internationalen Wissenschaftler:innen dabei sehr viel kleinteiliger und sehr individuell.

  • "Der Großteil der Ukrainer:innen, die bereits hier bei uns sind, befindet sich an den einzelnen Instituten und wir wissen teils gar nicht genau, wer wo ist und mit welcher Vereinbarung, was sie brauchen, wie deren Aufenthaltsstatus ist und so weiter. Da nachzufassen und zu versuchen, alle im Blick zu behalten, das ist für mich jetzt aktuell ziemlich herausfordernd."
    Antje Schöne

 

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen dabei? 

Carmen Bachmann: Dass die Menschen, mit denen ich kommuniziere, in einem Kriegsgebiet sitzen, ist wohl die größte Herausforderung für mich. Wenn ich beispielweise in den Nachrichten lese, dass es gerade in einem bestimmten ukrainischen Ort Raketenbeschuss gibt und ich weiß, dass da jemand sitzt, mit dem ich vor kurzem per E-Mail in Kontakt war, dann mache ich mir natürlich Sorgen, weil man durch die Kommunikation ja auch einen Bezug zu den Menschen entwickelt.

Eine weitere Herausforderung ist aber natürlich auch die Masse an Anfragen. Vor einer Woche fand die digitale Chance for Science-Konferenz statt, bei der ukrainische Wissenschaftler:innen online ihre Forschungsthemen auf zahlreichen Fachgebieten vorstellen konnten. Wir hatten über 400 Anmeldungen für die Konferenz und mehr als 165 Vorträge aus ganz diversen Fachgebieten. Von den Agrarwissenschaften über Computer Science bis hin zu Medizin und Krebsforschung. Diese Vielzahl an Vorträgen so zu strukturieren, dass ich passende deutsche Forschungspartner:innen finde, war wirklich herausfordernd. Wenn mir beispielsweise ein ukrainischer Agrarwissenschaftler ein Abstract schickt über genetische Veränderungen bei der Emigration von Schweinen aus der Ukraine nach Deutschland, dann brauche ich erstmal einen halben Tag, um überhaupt zu verstehen, worum es in der Forschung genau geht. Erst dann kann ich natürlich einen passenden deutschen Forschungspartner dazu finden. Und es war für mich beeindruckend zu sehen, wie stark das Bedürfnis und der Drang der Wissenschaftler:innen trotz widriger Umstände ist, sich mit Fachkolleg:innen auszutauschen und ihr Wissen zu teilen. Mein Fazit: Ein Wissenschaftler bleibt immer ein Wissenschaftler, egal unter welchen Umständen.

Antje Schöne: Mir geht es ähnlich, im Hinblick auf die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse der ukrainischen Wissenschaftler:innen. Der Großteil der Ukrainer:innen, die bereits hier bei uns sind, befindet sich an den einzelnen Instituten und wir wissen teils gar nicht genau, wer wo ist und mit welcher Vereinbarung, was sie brauchen, wie deren Aufenthaltsstatus ist und so weiter. Da nachzufassen und zu versuchen, alle im Blick zu behalten, das ist für mich jetzt aktuell ziemlich herausfordernd. Darüber hinaus ist natürlich auch das Thema Zukunftsperspektiven eine große Herausforderung. An der Philologischen Fakultät waren beispielsweise jetzt im Sommersemester schon sehr viele ukrainische Wissenschaftler:innen über dreimonatige Gastvereinbarungen eingebunden und konnten so auch finanziert werden. Diese Vereinbarungen sind nun aber ausgelaufen und damit ergibt sich die Frage, was jetzt als Nächstes kommt. Die Uni hat das Geld in dem Sinne nicht, sondern nur punktuell vielleicht in Form einzelner Stipendien. Da müssen wir jetzt versuchen, an den einzelnen Fällen dran zu bleiben und zu schauen, an welchem Punkt diese ukrainischen Wissenschaftler:innen aktuell stehen, was sie nun machen, wie sie finanziell abgesichert sind oder ob sie vielleicht schon zurückgekehrt sind. Das ist eine ziemlich diffizile Angelegenheit.

  • "Ein [...] ukrainischer Wissenschaftler schrieb mir am frühen Morgen des Konferenztages, dass in Charkiw nun Hilfsgüter eingetroffen sind und er diese jetzt mit verteilt und deshalb seinen Vortrag leider nicht halten kann. Wir hatten seine Folien bereits und haben dann den Vortrag für ihn gehalten. Alles das sind Momente, in denen man wirklich Gänsehaut bekommt..."
    Prof. Dr. Carmen Bachmann

 

Welcher Moment im Hinblick auf Ihre Arbeit mit den Ukrainer:innen hat Sie besonders berührt und warum?

Carmen Bachmann: Von diesen Momenten gibt es mittlerweile sehr viele. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen ukrainischen Historiker, der auf der ersten Chance for Science-Konferenz am 22. April einen Vortrag hielt und sich zu Beginn dafür entschuldigte, dass er einen so langen Bart hat. Er erklärte, dass er seinen Bart seit Russlands Einmarsch nicht mehr rasiert hat, sondern nur immer ein wenig davon stutzt, bei kleinen militärischen Teilerfolgen. Ein anderer ukrainischer Wissenschaftler schrieb mir am frühen Morgen des Konferenztages, dass in Charkiw nun Hilfsgüter eingetroffen sind und er diese jetzt mit verteilt und deshalb seinen Vortrag leider nicht halten kann. Wir hatten seine Folien bereits und haben dann den Vortrag für ihn gehalten. Alles das sind Momente, in denen man wirklich Gänsehaut bekommt, weil einem die einzelnen Schicksale der Menschen in der Ukraine so nahe gehen.

Antje Schöne: Bei mir finden die Beratungen der ukrainischen Wissenschaftler:innen, die es bis hierher geschafft haben, nun auch vermehrt persönlich statt. Mit einer Ukrainerin hatte ich im Vorfeld der Beratung schriftlich sehr viel Kontakt und dann fragte sie mich, ob sie ihren fünfjährigen Sohn mit zur Beratung bringen könnte, weil sie keine anderen Betreuungsmöglichkeiten für ihn hatte zu dem Zeitpunkt. Das war natürlich kein Problem und als ich am Abend vor der Beratung zu Hause war, dachte ich mir, dass es für den Kleinen ja sicher eher langweilig werden würde, bei einer Beratung über Aufenthaltsrecht dabei zu sein. Deshalb habe ich ein Puzzle aus dem Schrank rausgesucht, weil mein kleiner Sohn auch aktuell fünf Jahre alt ist und das sehr gern macht. Als der kleine Ukrainer am nächsten Tag in der Beratung mit dem Puzzle spielte, dachte ich mir, dass dieses Kind, so alt wie mein eigener Sohn, jetzt in einem fremden Land, in einer vollkommen neuen Umgebung und auch ohne Vater ist, der in der Ukraine vom Militär eingezogen wurde. Dieses Schicksal so persönlich vor Augen zu haben, das war ein Moment, der mich unglaublich berührte.

Was mich jedoch auf der anderen Seite auch berührt, ist der verstärkte Austausch innerhalb der Uni, der seit dem 24. Februar herrscht. Sei es in der Verwaltung, von Seiten der Geldgeber, in den einzelnen Instituten oder den Prorektoraten – alle arbeiten eng zusammen, um dieser Zielgruppe bestmöglich zu helfen und Prozesse zu etablieren, die ihnen das Ankommen und weitere Leben hier in Leipzig und an der Uni erleichtern. 

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