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Das Gastland Norwegen repräsentiert bei der Leipziger Buchmesse 2025 unter anderem Tore Renberg, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Schriftsteller des Landes. Für seinen im Vorjahr auf Deutsch erschienenen Roman „Die Lungenschwimmprobe. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde“ stand der Autor auch im Austausch mit Prof. Dr. Julia Schmidt-Funke, Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Leipzig. Dabei ging es aber nicht um die – zahlreich vorhandenen – Bezüge zur Universitätsgeschichte. Worin ihre Unterstützung für das Buch bestand, wie sie den Autor erlebt hat, welche Passage ihr am besten gefällt, darüber spricht sie im Interview mit dem Universitätsmagazin.

„Leipzig im Jahre 1681: die 15-jährige Anna Voigt steht vor Gericht, sie soll ihr neugeborenes Baby getötet haben. Die Obrigkeit will sie verurteilt sehen, es droht ihr der Tod – wie vielen anderen Mädchen und Frauen in dieser Zeit, die des gleichen Verbrechens bezichtigt werden. Aber dieser Fall ist anders: Sie hat nicht nur einen mächtigen Vater, der sich für sie einsetzt. Sondern es findet sich auch ein Arzt, der etwas spektakulär Neues wagt und ein wissenschaftliches Verfahren entwickelt, das in die Medizingeschichte als ‚Lungenschwimmprobe‘ eingehen wird. Durch dieses soll nachgewiesen werden, dass es tatsächlich eine Totgeburt war, wie Anna hartnäckig versichert, und kein Mord.“ 

Soweit ein Auszug aus dem Werbetext des Verlags. Die Lungenschwimmprobe sei ein „packender historischer Roman“, basierend auf wahren Begebenheiten, die der Autor akribisch recherchiert hat“ – nicht zuletzt zu Christian Thomasius, der Annas Anwalt war. Thomasius, der als Wegbereiter der Frühaufklärung in Deutschland gilt, studierte und lehrte an der Universität Leipzig und war nach einem Lehrverbot in Sachsen maßgeblich an der 1694 erfolgten Gründung der Universität Halle beteiligt.

Frau Schmidt-Funke, wenn Sie im Klappentext oder anderswo Formulierungen wie „nach einer wahren Begebenheit“ lesen, werden Sie dann erstmal stutzig oder skeptisch? 

Ich habe als Jugendliche solche sogenannten historischen Romane verschlungen und würde sagen, dass das Studium der Geschichtswissenschaft einem die Lust an solchen Stoffen verleidet. Man kann sich darauf nicht mehr einlassen, weil man anfängt, kritisch zu hinterfragen und die Erzählung mit dem eigenen Wissen abzugleichen. Die Fiktion kann sozusagen nicht mehr ungefiltert wirken. Zum Glück ist das bei der „Lungenschwimmprobe“ anders. 

Warum?

Erstens, weil das Buch hervorragend recherchiert ist. Zweitens, weil es kein reiner Roman ist. Der Autor Tore Renberg ist nicht unsichtbar, er bricht die Fiktion, indem er sich immer wieder einblendet und sagt: So bin ich zu diesem Stoff gekommen. Seine Wahrnehmung der Gegenwart, seine Wege der Recherche und sein Romanstoff vermischen sich. Das unterscheidet sein Buch von einem historischen Roman, der ganz auf die Fiktion setzt, inklusive Eintauchen in die Vergangenheit. 

Ich bin bei der Lektüre sehr gut in einen Lesefluss gekommen, unter anderem, weil es in dem Roman auch ganz stark menschelt. Was die Gefühle seiner Figuren angeht, bewegt sich der Autor sicher auf der Ebene der Fiktion. Dennoch werden bestimmte Dinge angesprochen, die für die Frühe Neuzeit und das 17. Jahrhundert kennzeichnend sind. Der Versuch, eine Stimmung einzufangen, ist insgesamt gut gelungen, auch aufgrund der Auseinandersetzung des Autors mit der ständischen Gesellschaft und dem Geschlechterverhältnis. 

Im Prinzip macht Renberg etwas, das wir in der Geschichtswissenschaft in bestimmten Maßen auch tun, dass wir nämlich Analogieschlüsse vornehmen. Wir wissen zwar nicht, wie Christian Thomasius selbst sich gekleidet oder gewohnt hat, aber wir wissen es vielleicht von seinem Amtskollegen. Das Arbeiten mit solchen Analogieschlüssen ist in der Geschichtswissenschaft unvermeidbar. Die Überlieferung ist lückenhaft, und diese Lücken füllen wir, indem wir gewissermaßen Wahrscheinlichkeiten angeben. Da könnte man schon sagen, das macht Renberg auch. Er schildert Szenerien, wie sie sich zugetragen haben könnten, und erreicht damit meiner Meinung nach ein hohes Maß an Plausibilität. 

Renbergs Buch ist ein ebenso kurioses wie faszinierendes Werk zwischen fiktivem Roman und historischer Forschung.

Peter Urban-Halle, Deutschlandfunk Kultur, 05.12.2024

Sie haben auch Ihren Anteil an dem Buch. Wie kam es dazu?

Die erste E-Mail, die ich von Tore Renberg bekommen habe, erreichte mich am 27. Mai 2022 mit dem Betreff „Der Mann am Sperlingsberg“. Gemeint war damit der Leipziger Scharfrichter, der am dortigen Henkersturm seine Amtswohnung hatte. Das Buch beinhaltet jetzt übrigens das Kapitel „Die Familie vom Sperlingsberg“. Zu jenem Zeitpunkt war Tore Renberg von meinen Kolleg:innen vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Uni Halle schon lange beim Schreibprozess begleitet worden. Weil er noch einige Fragen zur Leipziger Stadtgeschichte hatte, empfahlen sie ihm, sich nun an mich zu wenden. 

Ich war begeistert und habe gern geholfen. Es passte ganz gut, dass wir kurz zuvor mit den Recherchen für ein DFG-Projekt begonnen hatten, das sich mit dem frühneuzeitlichen Leipziger Wassermanagement befasst. Bei meinen Recherchen war ich auf eine Ausarbeitung von Gregor Grebenstein gestoßen. Das war ein Ingenieur, der als Autodidakt zur Leipziger Stadtgeschichte geforscht und sich in erster Linie mit der Wasserinfrastruktur in Leipzig befasst hat. Grebenstein hat aber auch eine Schrift über die Leipziger Scharfrichter und die hohe städtische Gerichtsbarkeit verfasst. Die haben wir für Tore Renberg eingescannt, da sie in Norwegen nicht zu bekommen war. 

Zudem habe ich ihm die neue Leipziger Stadtgeschichte empfohlen, die meine Kollegen vom Historischen Seminar anlässlich des 1000jährigen Stadtjubiläums herausgegeben haben. Die kannte Tore Renberg tatsächlich noch nicht. Und noch ein weiteres Werk von einem Japanologen namens Wolfgang Michel, der über den Wundarzt Caspar Schamberger geschrieben hat. Dafür war Tore Renberg sehr dankbar. Es ergab sich dann noch, dass ein Student von mir seine Bachelorarbeit über Scharfrichter geschrieben hat. Der Student und der Autor haben sich später auch noch getroffen. 

Apropos getroffen: Haben Sie Tore Renberg kennengelernt? Wie haben Sie ihn erlebt? 

Im September 2022 ist er nochmal für letzte Recherchen nach Leipzig gekommen. Er hatte bis dahin schon intensiv recherchiert und wissenschaftliche Quellen angezapft, zudem hat er sich, soweit möglich, an die Schauplätze begeben, das war ihm ganz wichtig. Eine Sache, die er sich noch vorgenommen hatte, war der Besuch des Kellers im Alten Rathaus, um sich dort die erhaltenen Gefängniszellen anzusehen. Bei der Gelegenheit haben er und seine Verlegerin die Kolleginnen und Kollegen vom IZEA aus Halle und mich zum Essen eingeladen. Wir haben einen sehr netten Abend verbracht über den Dächern Leipzigs, im Restaurant Falco, das es inzwischen ja nicht mehr gibt. Es war wahnsinnig interessant, zu erfahren, wie solch ein Schriftsteller vorgeht– und auch, wie man versucht, den schriftstellerischen Genius so zu pflegen, dass am Ende das erwünschte Ergebnis herauskommt. 

Als er damals, Anfang Oktober 1681, auf dem Weg zu einer Friedensverhandlung, die ihm äußerst zuwider ist, durch Leipzig spaziert, ahnt Thomasius nicht, dass er eines Tages, etwa neun Jahre später, aus seiner Heimatstadt wird fliehen müssen.

Auszug aus „Die Lungenschwimmprobe“

Gab es auch einen Austausch zu Fragen der Universitätsgeschichte? Es kommen schließlich diverse Professoren unserer Universität im Buch vor, bis hin zum Rektor. 

Nein, darauf hat mich Tore Renberg nicht angesprochen. Ich denke, das hatte er auch gut greifbar. Die mehrbändige Universitätsgeschichte, die im Jahr 2009 neu herausgekommen ist, ist ja auch aus unserem Institut hervorgegangen. Da konnte er sich gut informieren. Generell hatte er sich schon viel Material erschlossen, sodass er sehr zielgerichtet versucht hat, letzte Lücken zu schließen. Mit seiner Arbeit angefangen hatte er schließlich bereits 2018. 

Haben Sie eine Lieblingsstelle im Buch? Was hat Sie beeindruckt?

Ja, diese Schlüsselszene, in der der Physikus bei der Obduktion der Kinderleiche entscheidet, die Lungenschwimmprobe vorzunehmen. Das hat mich unglaublich in den Bann gezogen, wie Renberg das beschreibt, und da entstehen sofort Bilder im Kopf. 

Welche Bücher würden Sie sonst noch empfehlen?

Auf jeden Fall den Roman „Aufklärung“ von Angela Steidele. Schauplatz ist auch hier Leipzig, und zwar im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, und es geht um eine weibliche Sicht auf diese Zeit. Die älteste Tochter von Johann Sebastian Bach empört sich über die Biographie, die Johann Christoph Gottsched über seine verstorbene Frau Luise Adelgunde Victorie Gottsched veröffentlicht – und schreibt ihre eigenen Erinnerungen auf. Zu den Gottscheds forschen Leipziger Kolleg:innen übrigens in einem Akademieprojekt unter Leitung meines Vorgängers Manfred Rudersdorf. Und dann empfehle ich gerne noch das Sachbuch „Der Astronom und die Hexe“ meiner Kollegin Ulinka Rublack aus Cambridge. Sie hat sich mit dem Hexenprozess gegen die Mutter von Johannes Kepler befasst, und sie schreibt so, dass es fast wie Belletristik lesbar wird.

Vom 27. bis 30. März 2025 ist die Universität Leipzig wieder mit ihren Partneruniversitäten Halle und Jena auf der Leipziger Buchmesse vertreten. Das Forum UNIBUND umfasst ein Programm aus Vorträgen und Diskussionen, Forschungseinblicken, aktuellen Publikationen und Bildungsangeboten. Bereits seit 2017 präsentiert sich der Mitteldeutsche Universitätsbund gemeinsam auf der Leipziger Buchmesse.

Standort: Halle 2, Standnummer C301

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