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Spannender hätte es auf den letzten Metern kaum sein können: Die letzten Umfragen sahen ein Kopf-an-Kopf-Rennen vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen in Kolumbien zwischen den beiden Anti-Establishment Kandidaten Gustavo Petro und Rodolfo Hernández voraus. Am vergangenen Sonntag (19. Juni 2022) entschied sich nun eine Mehrheit der Wähler:innen knapp, aber deutlich für den Ex-Guerillero vom linken Bündnis Pacto Histórico. Erstmals in der Geschichte des Landes wird somit ein linksgerichteter Politiker Präsident. Und vielleicht sogar etwas außerordentlicher wird mit Francia Márquez erstmals eine Afro-Kolumbianerin Vizepräsidentin. Es lohnt also ein kurzer Blick zur Analyse nach Kolumbien mit Professorin Solveig Richter von der Universität Leipzig und Professor Ralf J. Leiteritz von der Universität del Rosario in Bogotá.

Warum hat Petro gesiegt?

Erstens spiegelt Petro am klarsten den Wandel des Landes nach dem Friedensprozess auch in seiner Person und seinem Programm wider und vereint damit letztlich eine große und diverse Gruppe aus dem links-progressiven Spektrum, gerade auch die junge Generation.

Zweitens ist seine Stärke auch das Ergebnis der Schwäche der nun abgewählten Regierung unter Präsident Iván Duque, der den Friedensprozess nur sehr zögerlich und widerwillig umsetzte, und mit zum Teil brutaler Härte völlig überzogen auf landesweite Proteste 2019-2021 reagierte. Viele Wähler aus der liberalen und progressiven Mitte wendeten sich daher vom konservativen und traditionellen Parteienklüngel ab.

Drittens ist der Faktor „Francia Márquez“ nicht zu unterschätzen. Petro ernannte sie im Wahlkampf zu seiner Vize-Kandidatin, ein strategisch kluger Schachzug. Sie steht für Diversität, brachte Glaubwürdigkeit und Integrität in die Kampagne. Sie repräsentiert für viele die ethnische und gesellschaftliche Diversität von Kolumbien, die bisher im politischen Establishment wenig Beachtung fand. In ihr ruhen die Hoffnungen vieler zivilgesellschaftlicher Akteure, die vor allem für die Rechte von Indigenen, Afro-Kolumbianern, armen Bauern, Frauen und Jugendlichen kämpfen.

Viertens kam Petro auch der Total-Ausfall der politischen Mitte zu Gute. Liberale, Grüne und andere Parteien waren zerstritten und konnten sich nicht auf eine/n einheitliche/n Kandidat/in einigen, die oder der im Wahlkampf von Beginn an die durchaus breite Wählerschaft der Mitte hinter sich vereint. Damit fehlte letztlich eine Identifikationsfigur jenseits des rechts-konservativen und populistischen sowie des linken Lagers, gerade auch im zweiten Wahlgang.

Fünftens erwies sich der inhaltsleere Populismus von Rodolfo Hernández zwar als Erfolgsfaktor im ersten Wahlgang, aber Fallstrick für die Stichwahl. Der Überraschungskandidat hatte ein Mobilisierungsproblem: Mit populistischer Anti-Establishment-Rhetorik und einer Anti-Korruptionsagenda bei zahlreichen eigenen laufenden Verfahren gewann er kaum neue Stimmen hinzu.

Sechstens stieg die Wahlbeteiligung noch einmal deutlich in jenen Regionen, in denen gerade Petro und Márquez Unterstützung fanden. Nicht nur die offizielle Kampagne sondern auch die zahlreichen Anhänger:innen von den beiden hatten in den letzten Tagen und Wochen massiv mobilisiert – mit Erfolg.

Wie ist nun die Perspektive für die kommenden Monate? In den Armenvierteln des Landes, in den Konfliktregionen und in der Jugend wurde lange und laut gefeiert, während der Katzenjammer sich bei der Elite schnell nach Schließung der Wahllokale breit machte. Viele haben nun regelrecht Angst, dass es höhere Steuern geben wird, die Wirtschaft kollabiert, es gar zu Enteignungen kommt.

Das Land braucht Wandel, aber keine Revolution

Fest steht: Das Land braucht Wandel, aber keine Revolution. Petro und Márquez müssen politische Allianzen bauen, Wirtschaft und Elite auf dem Weg mitnehmen, Veto-Spieler wie das Militär kontrollieren und einbinden – und internationale Partner wie die USA erhalten. Es wird somit schwer für Petro, die immensen Erwartungen seiner Anhänger als Präsident zu erfüllen. Dafür sind die strukturellen Probleme des Landes einfach zu vielfältig und komplex, um sie in einer gerade einmal vierjährigen Regierungszeit auch nur ansatzweise beseitigen zu können.

Hinzukommen dürfte ein schwieriges politisches Terrain im Parlament, welches seine Gesetzvorhaben verabschieden muss – sollte Petro seine Ankündigung wahr machen, nicht per Dekret regieren zu wollen. Zwar stellt sein Pacto Histórico in beiden Kammern (Senat und Repräsentantenhaus) jeweils die stärkste Fraktion, sie ist aber weit von einer absoluten Mehrheit entfernt und muss daher mittels – wechselnder – Koalitionen mit den traditionellen politischen Kräften im Land agieren. Es ist mithin zu erwarten, dass allzu radikale Vorhaben, etwa in der Wirtschafts- oder Energiepolitik, wenig Chancen auf eine Umsetzung haben werden.  

Auf der anderen Seite muss sich Petro davor hüten, den regulären parlamentarischen Prozess durch undemokratische Mittel abzukürzen, um seine Wahlversprechen einlösen zu können. Das ist eine leidige Tradition im modernen Lateinamerika: Einige Hoffnungsträger der politischen Linken wie Evo Morales in Bolivien konnten dieser Versuchung am Ende nicht widerstehen. Petro sollte aus dieser Erfahrung die richtigen Schlüsse ziehen, auch und gerade wenn das bedeutet, seine Wähler:innen und ihre hohen Erwartungen zumindest kurzfristig enttäuschen zu müssen.      

Zweifelsohne kann die Schere, die zwischen Erwartungen und konkreten Resultaten klaffen wird, nicht die (einzige) Messlatte sein, an der Gustavo Petro am Ende seiner Amtszeit 2026 gemessen werden sollte. Vielmehr sollte er langfristig wirkende Reformen, etwa in Bezug auf soziale Ungleichheit oder eine Energiewende weg vom Extraktivismus, in seiner Amtszeit einleiten, ohne dass er selbst die politische Rendite einfahren können wird. Dies würde allerdings den Grundstein dafür legen, dass solch notwendige Veränderungen in Kolumbien von Dauer sind und nicht von der nachfolgenden Regierung konterkariert werden können, wie es etwa mit dem Friedensprozess unter Präsident Duque geschehen ist. Sollte dies in der Tat gelingen, könnte seine Vizepräsidentin Francia Márquez ab 2026 diesen Weg fortsetzen und damit erneut eine historische Präsidentenwahl gewinnen.

Lesen Sie auch den Beitrag zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl: "Tanz auf dem Vulkan in Kolumkbien".

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