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Wahlen führen gerade in Konfliktregionen mit hohem Gewaltpotenzial zu enormen gesellschaftspolitischen Spannungen – so etwa derzeit auch in Kolumbien, in dem die Universität Leipzig erst jüngst eine akademische Partnerschaft begründete. Die Professor:innen Ralf J. Leiteritz von der Universidad del Rosario in Bogotá und Solveig Richter von der Universität Leipzig sehen die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen vom gestrigen Sonntag (29. Mai 2022) als eine kritische Zäsur seit dem 2016 begonnenen Friedensprozess mit der FARC-Guerilla – jedoch mit ungewissem Ausgang und völlig gegensätzlichen Szenarien: Ein Tanz auf dem Vulkan, wie es einer der früheren Präsidentschaftskandidaten durchaus treffend bezeichnete.

Die erste Runde endete mit einem Paukenschlag: Hinter dem favorisierten Kandidaten des linksgerichteten „Historischen Pakts“, Gustavo Petro (40,32 %), hat es mit Rodolfo Hernández (28,15 %) ein Outsider geschafft, in die zweite Runde der Wahlen am 19. Juni einzuziehen. Der lange Zeit in den Umfragen auf dem zweiten Platz liegende Vertreter der politischen Rechten, Federico Gutiérrez (23,91 %), landete nur auf dem dritten Rang; weit abgeschlagen kam zudem der Vertreter der politischen Mitte, Sergio Fajardo (4,2 %), ins Ziel.

Bemerkenswerter Linksruck

Damit zeigen sich zum einen deutliche Verschiebungen zwischen als auch innerhalb der politischen Lager, und damit ein bemerkenswerter Linksruck in einem stets eher rechts-konservativ geprägten Land. Die bisherige Regierung unter Präsident Iván Duque und die hinter ihr stehende rechtsgerichtete Ideologie des „Uribismus“ wurden deutlich abgestraft, eine breite Mehrheit der Bevölkerung wünscht einen Politikwechsel – unklar bleibt jedoch, wie stark dieser ausfallen und in welche Richtung er gehen wird. Der linke Kandidat Petro steht für einen Umbau der etablierten politischen und wirtschaftlichen Strukturen, für soziale Reformen und eine deutliche und vor allem schnelle Verbesserung der Lebensumstände vieler Kolumbianer, die in dem stark von ökonomischen und sozialen Ungleichheiten geprägten Land kaum von Wohlstand und Wachstum profitieren. Dieser Schrei nach Veränderung und tiefgreifendem Wandel hat sich in den letzten Jahren in tagelangen Straßenprotesten artikuliert. Mit seiner Vize-Kandidatin Francia Márquez, einer Afrokolumbianerin, konnte er zudem viele ethnische Minderheiten hinter sich versammeln.

Noch nie zuvor spiegelten sich die Disparitäten im Land aber auch die Diversität Kolumbiens so stark im Ergebnis einer Wahl wider wie in jenem Sieg der ersten Runde von Petro. Der hohen Einigkeit des „historischen Paktes“ stehen jedoch eine in die Bedeutungslosigkeit gefallene politische Mitte, fragmentierte konservative Rechte und traditionelle Eliten gegenüber, die vor allem die große Skepsis gegenüber Petro, einem ehemaligen Guerilla-Kämpfer eint. Man verweist dabei gerne auf das abschreckende Beispiel des Nachbarlands Venezuela, das in den letzten Dekaden von Linksdiktatoren zu einem wirtschaftlichen Bankrott und immensen Migrationsströmen – auch und gerade nach Kolumbien – geführt wurde. Zudem misstrauen viele Menschen den administrativen und ökonomischen Fähigkeiten Petros, meist verbunden mit seiner Zeit als Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá.

Überraschung im ersten Wahlgang

Dem zweitplatzierten Kandidaten, Hernández, einem Bauunternehmer ohne parteipolitische Basis, ist zweifelsohne die Überraschung im ersten Wahlgang gelungen. Er ist stark populistisch angehaucht, hat vor allem auf sozialen Medien mobilisiert, sich aber sonst mit programmatischen Aussagen weitgehend zurückgehalten und sich als Korruptionsbekämpfer inszeniert. Dass sein direkter Konkurrent Gutiérrez trotz der Unterstützung fast aller traditionellen politischen Parteien nicht den zweiten Platz holen konnte, zeigt nicht nur eine neue Mobilität von Wählern im rechten, eher auf Status-Quo-orientierten Lager, sondern auch die dort verbreitete Angst vor einer Wahl Petros, wird doch dem Populisten Hernández eher ein Sieg in der zweiten Runde zugetraut. Zweifelsohne wird er dann das gesamte Anti-Petro-Lager hinter sich vereinen können. Dies könnte sich für den gesellschaftspolitischen Wandel in Kolumbien jedoch als problematisch herausstellen, korrespondiert doch seine programmatische Leere mit frauenfeindlichen Äußerungen, einem schwierigen Führungsstil und einer offen geäußerten Sympathie für den – hier wortwörtlich zitiert – „großartigen Denker“ Adolf Hitler.

Bruchstellen des Friedensprozesses der vergangenen Jahre

Daneben zeigen sich in diesen Wahlen einmal mehr auch die Bruchstellen des Friedensprozesses der vergangenen Jahre auf regionaler und sub-nationaler Ebene. Ein Blick auf die Wahl-Landkarte zeigt sehr deutliche Ähnlichkeiten zum Referendum im Oktober 2016, in dem sich eine sehr knappe Mehrheit gegen das Friedensabkommen mit der FARC aussprach. Die Regierung Duque hatte in den letzten Jahren das Abkommen nur sehr schleppend umgesetzt; vor allem in den vom Konflikt betroffenen Regionen gab es in den letzten Jahren nur partiell Fortschritte. Im Gegenteil verschlechterte sich in vielen Regionen die Sicherheitslage sogar drastisch. Gerade in diesen Konfliktregionen konnte Petro zum Teil deutlich gewinnen, und dies auch dort, wo das ideologisch linke Lager und Guerilla-Truppen nicht notwendigerweise Unterstützung genießen, sondern eher rechte paramilitärische Gruppen dominieren. Dies spiegelt eine sehr deutliche Wahrnehmung in der Bevölkerung wider, dass es im Gegensatz zu Hernández und Gutiérrez vor allem Petro sei, der sich für Frieden und Gerechtigkeit im Land stark machen würde – trotz oder gerade wegen seiner Vergangenheit als ehemaliger Rebell.

Die Stichwahl am 19. Juni bringt nun die beiden Anti-Establishment Kandidaten zusammen. Der Ausgang ist offen: Hernández wird wohl die meisten Wähler:innen von Gutiérrez auf seine Seite ziehen können. Auf der anderen Seite muss er sich nun in den nächsten drei Wochen in einer direkten Konfrontation mit Petro beweisen müssen und dabei könnte durchaus ein Teil seines „unkonventionellen“ Charmes verloren gehen. Petro ist trotz seiner Herkunft inzwischen ein erfahrener Politiker und weiß, wie in Debatten zu punkten ist. Ob er damit jedoch am Ende genügend Skeptiker von sich zu überzeugen vermag, steht dahin.

Weichenstellung für die gesellschaftspolitische Weiterentwicklung Kolumbiens

Für Kolumbien wird es auch entscheidend sein, wie das endgültige Wahlergebnis in der Breite der Bevölkerung, den traditionellen Eliten als auch den entscheidenden Institutionen (z.B. im Militär) aufgenommen wird. Auch wenn der Wahltag gestern relativ friedlich verlief, hatte sich die Sicherheitslage in den Monaten vor den Wahlen vielerorts verschlechtert. Eine weitere Mobilisierung und Radikalisierung kann schnell auch zu erneuter Eskalation und zu Gewaltattacken führen. Zudem sieht sich gerade auch die zentrale Wahlbehörde seit den Parlamentswahlen im März großem Misstrauen gegenüber; Vorwürfe des Wahlbetruges stehen im Raum. Mit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen werden somit nicht nur die entscheidenden Weichen für die gesellschaftspolitische Weiterentwicklung des Landes gestellt, sondern auch für die Legitimität der Wahlen als auch des neuen Präsidenten.

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