Als Hanne Franken und Rieke Sander die Ladentür aufschließen wollen, erwartet sie eine kleine Überraschung: Hinter den Türgriff hat jemand ein kleines Bild geklemmt. Bunte Blumen auf braunem Grund, ein Motiv Marke „Omas Wohnzimmer“ der 1970er Jahre, handgemalt aber nicht gerade große Kunst. „Oh jetzt legen sie uns schon Bilder vor die Tür“, freut sich Hanne. Sie nimmt das Bild mit in den Laden im Elsterforum im Leipziger Westen, der durch den Schriftzug „tüüg“ auf der Schaufensterscheibe zu erkennen ist.
Drinnen sieht es eigentlich gar nicht nach Krimskrams aus, sondern eher wie in einer kleinen Galerie mit Wohnzimmer. Im vorderen Bereich stehen großformatige Gemälde auf Staffeleien, weiter hinten gelangt man über eine kleine Treppe hinunter in einen Workshop-Bereich mit Sofa, großem Tisch, sechs Stühlen und Regalen voller Mal- und Bastelmaterialien.
Zweites Leben für in die Jahre gekommene Bilder
Im Oktober sind Hanne und Rieke in die Forststraße/Ecke Ernst-Mey-Straße eingezogen und konnten das Ladengeschäft als Gewinnerinnen des Pop-up-Store-Ideenwettbewerbes der Stadt Leipzig die ersten Wochen kostenfrei nutzen. Gegen eine geringe Gebühr dürfen die Gründerinnen, die Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studieren, jetzt sogar bis Weihnachten bleiben.
Unter dem Titel „tüüg“ verkaufen und produzieren sie „Upcycled Art“: „Wir geben kaputten oder in die Jahre gekommenen Bildern mit nicht mehr zeitgemäßen Motiven ein zweites Leben.“ Dabei peppen sie zum Beispiel ein etwas blass gewordenes Bergpanorama mit knalligen Farbeffekten auf, kombinieren ein altehrwürdiges Porträt mit einem modernen Slogan oder lassen Nessy durch das Waldidyll schwimmen. Solche surrealen Effekte kommen besonders gut bei den Kund:innen an: „Am beliebtesten sind zur Zeit UFOs und Kraken“, erklärt Rieke, während sie mit dem Pinsel die Strahlen einer fliegenden Untertasse in eine dramatische Landschaft malt.
Eigene Werke und Workshops
Darf man das denn, einfach die Werke anderer Künstler verändern und verfremden? „Ich würde das nicht mit der Mona Lisa machen – obwohl, vielleicht doch?“, antwortet Hanne lachend. „Aber im Ernst: Wir versuchen, jedem Bild zu geben, was es braucht und dabei fair zu bleiben. Wir wollen seine Stärken hervorheben. Wir erwecken Bilder, die Hilfe brauchen, wieder zum Leben.“
- „Leipzig hat unheimliches Potenzial, deshalb sind wir hierhergekommen.“
In ihrem Pop-up-Store bieten die Studeninnen ihre eigenen Werke zum Verkauf an und bringen anderen in Workshops bei, wie man mit verschiedenen Kreativtechniken einzigartige kleine Kunstwerke aus „alten Schinken“ erschaffen kann. Sechs Workshops fanden im Herbst statt, die gut angenommen wurden. „Die Kund:innen brachten ein Bild mit, dann machten wir ein gemeinsames Brainstorming, was daraus werden könnte, und gaben uns gegenseitig Tipps.“ Die Materialien stellte „tüüg“, dazu gab es Musik und Getränke und nach drei bis vier Stunden hielten die Besucher:innen ihr eigenes Werk in den Händen. Wegen der verschärften Corona-Maßnahmen mussten alle weiteren offenen Workshops allerdings abgesagt werden, jetzt hoffen Hanne und Rieke auf geschlossene private Gruppen oder kleinere Firmenfeiern.
"Lieber etwas Eigenes gründen"
Doch von solchen Rückschlägen lassen sich die Kunstliebhaberinnen nicht aus dem Konzept bringen. „Wenn wir etwas anfangen, funktioniert das eigentlich immer. Wir kalkulieren Fehler mit ein und haben immer schon einen Plan B im Hinterkopf.“ Dabei sprechen die beiden aus Erfahrung. Rieke und Hanne sind in einem kleinen Ort nahe Kiel aufgewachsen und kennen sich seit dem Kindergarten. „Wir hatten schon als Kinder immer Projekte, sei es ein Flohmarkt vor dem Bäckerladen in unserem Dorf oder ein eigener Jugendclub im Garten.“ Dann gingen sie zum Studium gemeinsam nach Würzburg und wechselten zum Sommersemester 2021 nach Leipzig. „Wir hatten keinen Bock mehr auf unsere Studentenjobs und wollten lieber etwas Eigenes gründen. Leipzig hat dafür unheimliches Potenzial, deshalb sind wir hierhergekommen.“
Von ersten Upcycling-Versuchen zum Wettbewerbssieg in vier Monaten
Im Mai starteten die Neu-Leipzigerinnen ihre ersten Upcycling-Versuche auf dem WG-Balkon und brachten sich alles selbst bei nach dem Prinzip „Learning by doing“. Ihre ersten Werke verkauften sie auf Flohmärkten und auf der Online-Plattform Etsy. Im September reichten sie ihr Bewerbungsvideo beim Ideenwettbewerb ein und überzeugten die Publikumsjury in einer Online-Abstimmung mit großem Abstand zu den Mitbewerber:innen. Nur ein halbes Jahr nach ihrem Umzug nach Leipzig konnten sie so ihren ersten eigenen Laden in der Stadt beziehen.
- „Unser primäres Anliegen ist es, Kunst wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen und für alle Menschen zugänglich zu machen.“
Neben Ideenreichtum und einer gehörigen Portion Tatendrang kommt den Gründerinnen von „tüüg“ auch ihr Studium zugute, sagen sie. „Die Kunstgeschichte und die Kulturwissenschaften haben uns das Basiswissen gebracht, das wir brauchten. Wir können uns dadurch schnell neues Wissen aneignen. Außerdem fühlen wir uns einigermaßen sicher im Umgang mit Kunstwerken und haben eine klare Meinung zu Kunst. Manche sagen, wir ziehen Kunst durch den Kakao, aber unser primäres Anliegen ist es, Kunst wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen und für alle Menschen zugänglich zu machen.“
Zurzeit schmieden die beiden Studentinnen Pläne für die Zeit nach dem Pop-up-Store. Sie wollen das Konzept ausbauen und auch Möbel und Textilien „upcyceln“. Und neue Räumlichkeiten haben sie auch schon gefunden: Ab Mitte Januar findet man „tüüg“ in ihrem eigenen, kleinen aber feinen Laden in der Rödelstraße 15.
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