Ein Piano, das von selbst spielt, das ist ein Hingucker und vor allem auch ein Hinhörer. Möglich wird das durch Notenrollen. Das sind Papierrollen, in denen Löcher gestanzt sind, sodass sie von entsprechend ausgestatteten Tasteninstrumenten, sogenannten Selbstspielklavieren, wieder ausgespielt werden können. „Diese Notenrollen waren im Prinzip die ersten Musikmedien, noch bevor das Grammophon erfunden wurde, also am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Rollen und die Instrumente dazu konnte sich aber eher das gehobene Bürgertum leisten. Und für die Hausmusik waren diese Rollen ein Segen“, sagt Musikwissenschaftlerin Dr. Heike Fricke, Leiterin des Forschungsprojekts DISKOS. „Mit Hilfe dieser Rollen konnten auch Amateurpianist:innen große Literatur zum Klingen bringen, denn die einzelnen Noten wurden von der Klavierrolle auf die Klaviertastatur übertragen – nicht mehr durch die Finger der Klavierspieler:innen. Die Musizierenden am Selbstspielklavier bestimmten über Tempo, Agogik und Dynamik. So konnten sie die Stücke in ihrer eigenen Weise interpretieren, ohne wirklich das Klavierspielen zu beherrschen.“ Die Papierrollen waren für verschiedene Tasteninstrumente geeignet: vom Piano über das Harmonium bis hin zur Orgel.
Musikstadt Leipzig war Zentrum für selbstspielende Klaviere und Orchestrions
Die ehemals größte Fabrik Europas für selbstspielende Klaviere und Orchestrions war die Ludwig-Hupfeld AG aus Leipzig. Sie warb damit, dass die Reproduktionsklaviere „das individuelle Spiel einzelner Meister bis in die geringsten Schattierungen hinein“ wiedergäben. Die Zeitgenossen sahen in der neuen Entwicklung einen Vorteil für den musikgeschichtlichen Unterricht, der „in all seinen Formen unter dem Mangel musikalischer Anschauungsmöglichkeiten“ litt und „zum Verzicht auf jede Hörbarmachung und zu ungenügenden und oft irreführenden Proben am Klavier“ gezwungen war. „Massenweise wurden damals selbstspielende Klaviere verkauft und das Zentrum dafür war Leipzig“, erläutert Fricke. Erstmals gab es auf diese Weise Hörbeispiele.
- „Richard Strauss und Edvard Grieg beispielsweise spielten hier in Leipzig ihre Stücke selbst ein. Wir versuchen herauszufinden, wie Komponist:innen ihr Werk eigentlich gemeint haben.“
Dr. Heike Fricke
Das Projekt DISKOS hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht herauszufinden, mit welcher Technik die Musik seinerzeit auf diese „Toninformationsträger“ übertragen wurde. „Es ist noch nicht komplett erforscht, denn die Technik wurde in dieser Zeit geheim gehalten. Der Klavieranschlag wurde mit einer Papierrolle aufgenommen und wahrscheinlich wurde mit Tinte gekennzeichnet, an welchen Stellen die entsprechenden Löcher gestanzt werden müssen. Daraus entstand ein Musterband, das dann in einer größeren Auflage produziert wurde.“ Ähnlich wie heutzutage in Tonstudios Masterbänder, beziehungsweise die Ur-Dateien eines Musikstücks, entstehen, wurden auf diese Weise Musikstücke aufgenommen. „Das sind natürlich keine Einspielungen, wie wir sie heute kennen, sondern die Aufzeichnung der – wenn man so will – Bewegungsimpulse. Dies können Impulse der Maschine sein, die einfach eine eingestanzte Schrift liest oder – und das ist spannend und einmalig – die konservierten Fingerbewegungen von Pianist:innen.“ Leipzig war das Zentrum für solche Aufnahmen. „Richard Strauss und Edvard Grieg beispielsweise spielten hier in Leipzig ihre Stücke selbst ein. Wir versuchen herauszufinden, wie Komponist:innen ihr Werk eigentlich gemeint haben.“
Forschende erhoffen sich neue Erkenntnisse über historische Kompositionen
Ein Ziel des Projektes DISKOS ist, gut erhaltene Papierrollen als MIDI-Dateien vorzulegen. Rund 3.200 Notenrollen sind vorhanden, davon 2.400 im Scan digitalisiert, es liegen rund 300 Audio-Aufnahmen vor. „Dieses interdisziplinäre Projekt ist einzigartig in der Musikwissenschaft, denn es schafft die Voraussetzung dafür, Quellen der Musik, also beispielsweise den gedruckten Notentext eines Klavierstücks von Edvard Grieg, mit seiner eigenen Einspielung zu vergleichen. Zu erfahren, wie die Komponist:innen aus einer Zeit, in der es noch keine gängigen Tonträger wie heute gab, ihr Werk gedacht und gemeint haben, die Zwischentöne zu erforschen, das ist für die Musikgeschichte äußerst spannend. Das kann ein ganz neues Licht auf Werke werfen, die zwischen Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts und den 1920er Jahren entstanden sind“, beschreibt Musikwissenschaftlerin und Projektleiterin Dr. Heike Fricke das Projekt.
- „Wir haben mehr als 500 Aufnahmen auf Papp- und Metallplatten und rund 1.700 Fotografien als Grundlage für die Herstellung von MIDI-Dateien, mittels der wir die Werke wieder im Original erklingen lassen können, und zwar genauso, wie sie vor mehr als 100 Jahren eingespielt wurden.“
Dominik Ukolov
Die Digitalisierung ist ein interdisziplinäres Projekt der Forschungsstelle Digital Organlogy am Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig um Prof. Dr. Josef Focht mit dem Institut für Informatik um Prof. Dr. Gerik Scheuermann und dem Department of Mathematics and Computer Science der University of Southern Denmark um Prof. Dr. Stefan Jänicke. „Wir analysieren ein Musikstück mit Hilfe eigens dafür entwickelter Software genauer, in dem wir vergleichen, ob es zwischen dem Notentext und den Aufzeichnungen dieser Rolle Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt. Und wir analysieren auch, wie oft Töne und Tonarten in den verschiedenen Werken vorkommen“, sagt Fricke.
Neben Papierrollen gibt es noch Vorgänger: Papp- und Metallplatten, die ab 1889 in Leipzig hergestellt wurden. In der Größe ähneln manche den Schellackplatten, das Abspielgerät ähnelt dem eines Grammophons. Die Platten dienten jedoch vor allem zum Spielen kürzerer Melodien, auch hier sind die Löcher in die Pappe beziehungsweise das Metall gestanzt. Im Bestand sind 99 Pappplatten sowie 438 Metallplatten und 24 Automaten. „Wir haben mehr als 500 Aufnahmen der Platten und rund 1.700 Fotografien als Grundlage für die Herstellung von MIDI-Dateien, mittels der wir die Werke wieder im Original erklingen lassen können, und zwar genauso, wie sie vor mehr als 100 Jahren eingespielt wurden“, erzählt Dominik Ukolov, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Digital Organology am Musikinstrumentenmuseum. „Wir sind gerade dabei herauszufinden, wie viele Titel und Kompositionen sich auf diesen Platten befinden. Wir stehen hierbei aber noch am Anfang der Methodenentwicklung.“
- Hintergrund:
Das DISKOS-Projekt „Komparation multimodaler Quellencorpora der Musik“ wird über den Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2023 vom BMBF mit insgesamt 925.000 Euro gefördert. Rund 3.200 Notenrollen sind bearbeitet, gereinigt, beschrieben und fotografiert, rund 2.400 davon in voller Länge gescannt, rund 310 Notenrollen wurden mit der Tri-Phonola aufgenommen. Das ist ein automatisches Klavier, das diese Notenrollen abspielen kann. Von 537 Pappplatten wurden rund 1.700 Fotos gefertigt, die als Grundlage für die Herstellung von MIDI-Dateien dienen. Es gibt etwa 600 Einzeltonaufnahmen der Automaten, die diese Platten abspielen können. Die Forschungsergebnisse wurden und werden auf mehreren internationalen Konferenzen vorgestellt.
Kommentare
Steffen Kaul,
Sehr geehrte Frau Dr. Fricke,
Mit großem Interesse las ich Ihren Bericht vom 21.08.2022.
Ein sehr spannendes Thema.
Gibt es hierzu auch öffentliche Vorträge?
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem Drehorgelbau und schreibe mittlerweile auch meine eigenen Bänder.
Es freut mich, dass so eine intensive Betrachtung auf diese wichtige Zeitepoche Leipzigs durch ihr Projekt manifestiert wird.
Ich wünsche Ihnen und Ihrem Team viel Erfolg und würde mich freuen, wenn Sie das Geheimnis über die Datenaufzeichnungen der Künstler in der Fa. Hupfeld lüften könnten.
Mit freundlichen Grüßen,
Steffen Kaul
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