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Tim Kesseler studiert im ersten Semester Sport und Ethik auf Lehramt an der Universität Leipzig. Der Zwanzigjährige fühlt sich im Wintersport sehr wohl, genauer gesagt im Viererbob – als Anschieber. 2023 wurde er Junioren-Weltmeister im Viererbob. Am Montag und Dienstag (8.1. und 9.1.) startet Kesseler beim Europacup in Altenberg, anschließend geht es als Ersatzmann zur Junioren-WM nach St. Moritz. Anfang Februar geht der Student bei der Junioren-EM in Innsbruck-Igls an den Start. Wie kommt ein gebürtiger Leipziger zum Bobsport? Welche Eigenschaften muss ein Anschieber mitbringen? Und wie lassen sich Studium und Leistungssport unter einen Hut bringen? Ein Besuch.

An einem Dezemberabend in der Leichtathletiktrainingshalle „Nordanlage“ auf dem Leipziger Sportforum: Neben zahlreichen anderen Athleten trainiert hier Tim Kesseler Sprint und Krafttraining. Sein Ziel: Die Junioren-Bob WM 2024 in St. Moritz. Im Alter von neun Jahren begann er mit Leichtathletik, um mit 16 zum Bobsport zu wechseln: „Normalerweise wechseln Leichtathlet:innen mit Anfang bis Mitte 20 in den Bobsport, weil sie in diesem Alter fertig ausgebildete Athlet:innen sind. Aber bei mir war das anders. Ich war mit 16 noch lange kein fertig ausgebildeter Athlet und bin es auch jetzt noch nicht. Es gab ein Scouting und mein alter Leichtathletiktrainer und der Landestrainer Bob meinten, ich sei für den Bobsport geeignet“, sagt der Nachwuchssportler.

Der Lehramtsstudent trainiert beim SC DHfK Leipzig, die Leichtathletikanlage ist zugleich Bundesstützpunkt Leichtathletik und Olympiastützpunkt. Die Bobathlet:innen werden in der Regel in der Leichtathletik gesichtet und gewonnen: „Die Bobstützpunkte scouten in den Großstädten in den weiteren Regionen: Altenberg in den Regionen Dresden, Leipzig bis hin nach Berlin.“ Seine Heimbahn ist also der Eiskanal in Altenberg. „Die Kriterien beim Scouting sind: Hohes Körpergewicht, wenig Fettmasse, sehr schnelle beziehungswiese starke Athlet:innen, wie Sprint und Kugelstoßen. Nicht 9,5 Meter pro Sekunde, sondern 12,5 Meter pro Sekunde müssen wir beim Anschieben sprinten, also schneller als Leichtathleten, und das auf einer Distanz von bis zu 60 Metern, und bestenfalls 105 Kilo auf die Waage bringen. Das optimale Gesamtgewicht der Mannschaft beträgt rund 420 Kilo – und das sollte das Team bestmöglich ausreizen“, so der Anschieber. Kesselers Stamm-Team ist derzeit der Viererbob von Pilot Alexander Czudaj, Sohn des Viererbob-Olympiasiegers Harald Czudaj (1994 in Lillehammer).

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Zu sehen ist der Viererbob in der Startphase: Das Team schiebt den Bob auf der Bobbahn an.
Der Viererbob mit Pilot Laurin Zern, Tim Kesseler sowie Jörn Wenzel und Marvin Orthmann raste am 15. Januar 2023 in Winterberg zum U23-Weltmeistertitel. Foto: Hannes Hirnböck

Hochleistungssport und Studium miteinander vereinbaren

Wie bekommt Tim Kesseler im Wintersemester Hochleistungswintersport und Studium unter einen Hut? Muss er nicht ständig auf der Bahn sein? „In den Nachwuchsteams werden in der Regel keine Wettkämpfe, sondern Lehrgänge ausgefahren, um Routinen zu lernen: Wo sind beim Fahren die Druckpunkte, wie sind die Kurvenein- und -ausfahrten? Welche Rolle spielt das Wetter? Wie müssen die Gewichte im Schlitten verteilt sein? Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird das Fahrtraining weniger. Zu Saisonbeginn fahren wir viel, aber im Verlauf der Saison steht das Athletiktraining im Mittelpunkt. Anschubtraining und Routinen werden in der Regel einmal wöchentlich auf der Bahn trainiert: Anschieben, als Team bei 40 km/h in der richtigen Reihenfolge in den Bob springen, Bügel einklappen.“ Das heißt: Wenn nicht gerade Wettkampf ist, trainiert Kesseler überwiegend in Leipzig, in der Leichtathletikhalle – ein geregelter Tagesablauf ist also möglich.

Die Universität Leipzig bietet für Spitzensportler:innen ein Kooperationsprogramm mit dem Olympiastützpunkt Leipzig an: „Ich kann mein Studium um den Leistungssport herum planen: Wenn ich auf Wettkampfreisen, wie EM oder WM, bin, bekomme ich Aufzeichnungen von den Lehrveranstaltungen. Wichtig in meinem Tagesablauf ist, dass die Trainingsroutinen nicht durcheinander geraten. Ich versuche, einen halben Tag für die Uni da zu sein und einen halben Tag zu trainieren.“ Sein Beispielmontag im Wintersemester sieht so aus: 9:15 Uhr Vorlesung Trainingswissenschaft, danach Seminar Sportmotorik, dann Praxisunterricht, von dem er sich aber auch freistellen lassen kann, wenn das Verletzungsrisiko zu hoch ist oder diese Einheit überhaupt nicht in seinen Trainingsplan passt, im Anschluss stehen Physiotherapie und Training auf seinem Stundenplan.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Zu sehen ist ein Viererbob in einer Kurvenfahrt
Bei voller Fahrt, besonders in den Kurven, wirken enorme Kräfte auf den Körper. Um diese aushalten zu können, braucht es austrainierte Sportler:innen. Foto: BSD

Wie Bobfahren auf den Körper wirkt

Und wie war seine allererste Bobfahrt? „Meine erste Fahrt in Altenberg von ganz oben hatte ich mit 17 und die war heftig: Ich habe zwischen 75 und 80 Kilogramm gewogen und der Schlitten hat mit mir Pingpong gespielt. Ich bin hin und her geflogen. Ein älterer Kugelstoßer hätte das vielleicht besser abfedern können. Bei den ersten Fahrten muss man erstmal Dreck schlecken. Der Körper entwickelt mit der Zeit ein Gefühl dafür, wann die Ein- und Ausfahrten kommen, wie man sich festhalten muss. Meine Mutter ist immer etwas besorgt, aber das ist normal.“ Dazu muss man wissen: Die Altenberger Bobbahn gilt als eine der anspruchsvollsten der Welt. Kräfte bis zu 7wirken auf den Körper. Zum Vergleich: In einer Achterbahn wirken 4g, ein Kampfflugzeugpilot muss bis zu 9g aushalten. [Anm. d. Red.: Als „g“ wird die Erdschwerebeschleunigung bezeichnet.] „Wenn du zum Saisonbeginn vielleicht der Beste bist und dich zum Beispiel nach einem halben Jahr verletzt, weil der Körper den Belastungen nicht standhält, nutzt das nichts. Trainingssteuerung und Regeneration ist wichtig. Wenn du in einer Woche im Training drei- bis viermal pro Tag in Altenberg die Bahn runter fährst, kannst du die Woche darauf das Training vergessen. Der Körper muss regenerieren. Ich freue mich, wenn ich die Saison ohne große Blessuren auf hohem Leistungsniveau durchkomme.“ Bob auf hohem Niveau könne man bis Anfang 30, vielleicht auch Mitte 30 betreiben, je nachdem, wie das jeder körperlich verkraftet, sagt er: „Die körperliche Belastung ist beim Bob sehr hoch. Beim Spitzensport können Verletzungen immer passieren, aber unser Trainerteam arbeitet mit uns sehr gut präventiv.“

Apropos Leistung: Was ist Tim Kesselers größtes sportliches Ziel? „So lange ich studiere, möchte ich meine bestmögliche Leistung abrufen und mein Team halten. Es herrscht ein hoher Leistungsdruck: Es kommen immer neue Sportlerinnen und Sportler dazu, die Altersklassen wechseln. Und klar ist mein Ziel, im Weltcup zu starten, bei der WM, bei Olympia. Aber es klingt vielleicht abgedroschen, aber ich muss von Saison zu Saison denken, in kleinen Schritten. Wenn ich die Norm für die U26-WM nicht schaffe, schaffe ich auch nicht die Norm für Olympia.“ Am Montag und Dienstag (8. und 9. Januar) startet er im Europacup in Altenberg, im Anschluss geht es zur U23-WM nach St. Moritz. Auf Grund einer Verletzung im Herbst diesmal als Ersatzmann. Anfang Februar steht die Junioren-EM in Innsbruck auf der Olympiabahn am Berg Igls auf dem Plan.

Sein Wunsch für die aktuelle Saison? „Verletzungsfrei durchkommen und die Leistungen vom letzten Jahr ausbauen.“ 2023 wurde er nicht nur U23-Weltmeister, sondern auch U23-Europameister im Viererbob.

Und wenn seine Zeit als Spitzensportler einmal vorbei ist, steht er - so sein Plan - eines Tages als Sport- und Ethiklehrer an einem Gymnasium vor Schulklassen.

Update vom 22. Januar 2024

Bei der Junioren-Bob WM in St. Moritz fuhr der Viererbob um Alexander Czudaj, Adrian Lüdtke, Tim Kesseler und Nino Vogel auf den hervorragenden fünften Platz.

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