Nachricht vom

„Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ heißt das politische Sachbuch, das seit Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und wie selten erlebt im medialen Fokus steht. Der Leipziger Germanistik-Professor Dirk Oschmann hat es geschrieben und damit die Debatte um die „demokratiegefährdende und skandalöse binnendeutsche Differenz zwischen Osten und Westen“ neu entfacht.

Erstmals publizierte Oschmann seine Thesen im vergangenen Jahr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) – und erntete dafür gleichermaßen Zustimmung und Kritik. Seine, wie er sagt, „subjektiv gefärbten Beschreibungen“ hat er für das Buch anschließend ausgebaut. Sie thematisieren „ungerechte Verhältnisse“, etwa, „dass Ostdeutsche in Führungspositionen völlig unterrepräsentiert sind – und das im eigenen Lebensbereich Ostdeutschland“. Auch geht es um sprachliche Zuschreibungen an den deutschen Osten und „um Gräben, die nie geschlossen und Mauern, die nie eingerissen“ waren. Im Interview spricht der 55-Jährige über Entstehung und Charakter seines Buches, über die mediale, politische und private Resonanz, über Erfahrungen mit Journalist:innen und darüber, warum sein „Engagement für die Demokratie“ notwendig ist.

 

Herr Professor Oschmann, mit drei starken Adjektiven kurz charakterisiert, was für ein Buch haben Sie geschrieben?

Es ist ein im Ton sehr scharfes und ein mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf die Lage der Demokratie sehr notwendiges Buch. Jedenfalls bin ich davon fest überzeugt. Und es ist auf jeden Fall kein, wie es jetzt mehrfach behauptet wurde, humorloses Buch. Dafür muss man nur lesen können. Es gibt viele ironische, sarkastische und auch lustige Stellen. Das nehme ich für mich in Anspruch, und es ist auch vielfach festgestellt worden. Natürlich nicht von denen, die sich nicht auf das Thema einlassen und es nicht wahrhaben wollen, oder von denen, denen eine grundlegende Lesefähigkeit im Sinne von sprachlichem Feingefühl fehlt.

Sie sind Professor für Neuere deutsche Literatur, haben sich privat nun aber einem politischem Thema verschrieben. Wieso?

Als Literaturwissenschaftler hat man immer auch mit Sprache zu tun und eine hohe Konzentration auf sprachliche Phänomene, auch im öffentlichen Raum. Die vergangenen 30 bis 35 Jahre habe ich – hoffentlich – als einigermaßen wacher Beobachter wahrgenommen. Jedenfalls hat bei mir eine Art innerer Sammlungsprozess zum Thema stattgefunden. Wörter wie „Buschzulage“ oder „Aufbau Ost“ vergisst man nicht, auch nicht Wortprägungen wie „ossifrei“.

 

Porträtaufnahme von Professor Dirk Oschmann

Wörter wie „Buschzulage“ oder „Aufbau Ost“ vergisst man nicht, auch nicht Wortprägungen wie „ossifrei“.

Prof. Dr. Dirk Oschmann

Im Jahr 2018 wurde ich erstmals angefragt, meine Erfahrungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Das habe ich noch abgelehnt. Im Umfeld der 30-jährigen Jubiläen häuften sich dann die Anfragen, und ich habe mich so nach und nach hineingefunden. Auch bin ich beredet worden, dass es wichtig sei, dass jemand wie ich, der zu den wenigen Professoren aus dem Osten gehört, Stellung nehme. Das war für meine Motivation ein ganz wichtiger Punkt. Zuvor habe ich mich lange gefragt: Will ich mich auf diese Weise exponieren? Will ich diese Art von öffentlicher Rolle annehmen? Will ich mich so markieren und vielleicht auch stigmatisieren lassen? Denn die Gefahr besteht natürlich, wie man nur zu deutlich sieht. Meinen ersten Vortrag zum Thema habe ich im Jahr 2021 in null Komma nichts geschrieben und die jahrzehntelange private und kollektive Diffamierung gewissermaßen aus mir herausgeschüttelt. Man sammelt nicht 30 Jahre lang ohne Konsequenzen. Die nächste Stufe war dann, dass Freunde und Kollegen mir gesagt haben, ich solle das veröffentlichen. Auch das habe ich zunächst vor mir hergeschoben, bis die neu gewählte Bundesregierung wieder einen Ostbeauftragten installiert hat. Dann kamen mein FAZ-Artikel und schließlich das Buch.

Jede große und unzählige kleinere Tageszeitungen haben Ihr Buch rezensiert oder thematisiert. Sie waren bei Fernsehauftritten zu sehen und in Radiointerviews zu hören. Es scheint, als hätten Sie in den vergangenen Monaten wenig anderes gemacht …

Im Wesentlichen stimmt das. Ich habe an die 40 Interviews gegeben und bekomme nach wie vor täglich neue Terminanfragen. Zusätzlich gab es noch eine Reihe anderer Termine, beispielsweise die Buchpremiere und erste Lesungen. Erst kürzlich wurde ich im Rahmen einer Tagung, die an der Uni Magdeburg zum Thema stattgefunden hat, für eine Radiosendung zugeschaltet. Große Resonanz habe ich aber auch auf privater Ebene erhalten und von vielen bekannten wie unbekannten Leuten Post bekommen. Dass das alles in diesem Umfang passiert, habe ich mir nicht vorstellen können. Ganz klar konnte ich dieses Programm nur bewältigen, weil Semesterpause war.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Journalist:innen gemacht?

Die Kooperation mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war extrem positiv und professionell. Und in den letzten Monaten habe ich bei den verschiedenen Zeitungen viele sehr gute Leute kennengelernt. Auf der anderen Seite gab es Momente, in denen ich irritiert war, beispielsweise als mir eine politische Journalistin aus dem Westen sagte, sie glaube nicht, dass der Osten den Solidaritätszuschlag bezahlt hätte. Das sind Fehlleistungen, die man nicht erwarten würde. Aber es ist natürlich schon Teil des Problems, dass dieser Beitrag Solidaritätszuschlag heißt, so als würde nur der Westen hier Solidarität leisten. Das ist von der Wortwahl her genauso missraten wie viele andere Prägungen und sprachlichen Zurichtungen an den Osten. Irritierend war auch, einem Journalisten zu begegnen, der nicht wusste, dass Björn Höcke ein Nazi aus dem Westen ist und der ihn für einen Thüringer Faschisten hielt. Beides darf auf professioneller Ebene nicht passieren, passiert aber nach wie vor und führt dazu, dass die Medien das Bild fortschreiben, das offenbar seit 30 Jahren oder länger in den Köpfen existiert. Auch wenn die Beispiele Ausnahmen sind, sind sie trotzdem signifikant.

Welche Zustimmung und Kritik wurde konkret an Sie herangetragen?

Die große Zustimmung kann ich gar nicht genauer spezifizieren. Bei den kritischen Reaktionen ist auffällig, dass sie von einer bestimmten Gruppe kommen, nämlich westdeutschen Männern um die 70 oder älter.

 

Bei den kritischen Reaktionen ist auffällig, dass sie von einer bestimmten Gruppe kommen, nämlich westdeutschen Männern um die 70 oder älter.

Prof. Dr. Dirk Oschmann

Ein Freund von mir hat sie die „Pensionäre der alten Bundesrepublik“ genannt. Diejenigen also, die in den letzten 30 bis 35 Jahren die Dinge entschieden und an den Schalthebeln gesessen, die sich vielfach – natürlich auch im positiven Sinne – engagiert haben. Das heißt trotzdem nicht, dass keine negativen Effekte durch ihre Entscheidungen entstanden sind und sich viele im Nachhinein nicht als fatal erwiesen haben. Bösen Willen gab es selbstverständlich auch. Wenn man nur an gut dokumentierte Begriffe wie „ossifreie Institution“ denkt, muss man sich keinen Illusionen mehr hingeben. Auch in solchen Zusammenhängen hatten die „Pensionäre der alten Bundesrepublik“ jahrzehntelang Entscheidungspositionen inne. Durch meine Argumentation sehen sie ihre Lebensleistung in Frage gestellt. Ihnen widerfährt jetzt etwas, das Millionen von Ostdeutschen nach 1990 widerfahren ist: Die eigene Lebensleistung wird plötzlich entwertet.

Steckt hinter Ihrer Argumentation auch die Absicht einer Provokation?

Ich habe nicht erwartet, dass mein Buch allen gefällt. Es ist ganz klar eine scharfe Ansage. Man kann das „Provokation“ nennen. Ich nenne es die klare Darstellung eines Sachverhalts.

Wird man zum Sachverhalt zukünftig noch mehr von Ihnen hören?

Auch mit Blick auf das politische Echo werde ich weiter für öffentliche Zusammenhänge zur Verfügung stehen und mein Engagement für die Demokratie nicht wieder einstellen. Die Politik sieht offenbar Gesprächsbedarf und hoffentlich sogar Handlungsbedarf. Der sächsische Ministerpräsident hat mich schon letztes Jahr zum Gespräch nach Dresden eingeladen und wird sich demnächst noch einmal mit mir hier in Leipzig treffen. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt hat im Magazin  „Cicero“ mein Buch rezensiert. Im März hatte ich zwei Termine im Bundeskanzleramt: einen mit dem Ostbeauftragten und einen mit dem Stab  des Ostbeauftragten, um gemeinsam zu überlegen, welche Strategien es geben könnte, um bestimmte Dinge auch von politischer Seite zu ändern. Auch im Bundespräsidialamt wird es demnächst ein Gespräch zum Thema geben. Diese Gespräche waren und sind für mich eine wichtige Rückmeldung, auch im Hinblick darauf, ob ich meine Position in manchen Punkten revidiere. Aber am tendenziellen Totalausschluss des Ostens von der Mitgestaltung der Demokratie gab es keinen Zweifel; von manchen Gesprächspartnern wird er teilweise noch dramatischer gesehen als von mir selbst.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Katrin Henneberg
 

Veranstaltungshinweis im Rahmen der Leipziger Buchmesse

Am 28. April 2023, um 15 Uhr, diskutiert Prof. Dr. Dirk Oschmann im Forum UNIBUND gemeinsam mit Prof. Dr. Daniel Fulda (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und Prof. Dr. Dirk von Petersdorff (Friedrich-Schiller-Universität Jena) zum Thema „Ost und West: zu ungleich, um sich zu verstehen?“

Kommentare

  • Anna Blietschau,

    Habe das Buch gelesen. Möchte mich ganz herzlich dafür bedanken!
    Wusste bereits einiges. Habe durch das Buch viel dazu gelernt.
    Gut belegt ist es auch, mit den Quellenhinweisen!
    Es ist lehrend, aber nicht belehrend.
    Ich selber bin 1951 im Ruhrgebiet geboren und auch dort aufgewachsen.
    Das zu meinem Hintergrund, Ruhrpottkind.
    Herzliche Grüsse, Anna

    Antworten

Ihr Kommentar

Hinterlassen Sie gern einen Kommentar. Bitte beachten Sie dafür unsere Netiquette.