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Mitunter wird die Forschung von der Realität überholt, etwa zum Thema „Kriegsangst". Zwischen 2017 und 2019 unternahm eine Gruppe internationaler Doktorand:innen der Graduate School Global and Area Studies gemeinsam mit dem Osteuropahistoriker Stefan Troebst mehrere Exkursionen nach Estland, in den Südkaukasus und die Ukraine. Das Feldforschungsprojekt bot die Möglichkeit, das Thema der Kriegsangst im post-sowjetischen Raum genauer zu untersuchen. Für unseren Blog rekapituliert Troebst diese Reisen. Im ersten Teil schildert er die Eindrücke aus Estland und Armenien, das sich vor dem High-Tech-Angriff auf Berg-Karabach noch in trügerischer Sicherheit gewiegt hatte.
Ein Erfahrungsbericht.

In der internationalen Forschung zu Krieg und Frieden, zu Konfliktprävention und konstruktiver Konfliktbearbeitung, spielt Kriegsangst keine prominente Rolle. Und auch im relativ neuen Forschungsfeld der Gewaltmigration wird Fluchtverursachung durch militärische, paramilitärische und zivile Akteure, aber auch durch Medien, also das aktive Erzeugen von diffuser Kriegsangst bzw. konkreter Kriegsfurcht sowohl mittels Drohkulissen als auch durch selektive Gewalt, in der Regel stiefmütterlich behandelt. Ähnliches gilt für die psychologische Traumaforschung, die ebenfalls mehrheitlich gewaltfixiert ist, das „Panik-Vorfeld“ aber nur streift. Dabei sind die Reaktionen auf akute wie latente Kriegsangst vielfältig – und müssten damit eigentlich Gegenstand konzertierter disziplinenübergreifender Forschung sein. Neben panikbedingtem Akut- wie Dauerstress wären hier Gewöhnung, Abstumpfung und Verdrängung, also Adaption, aber auch Depression und Resignation („Schicksalsergebenheit“) sowie „vorauseilende“ Migration, sei es in Form von Flucht, Auswanderung oder (temporären) Umzugs im Binnenland, zu nennen. Im Extremfall kann es zu individueller oder gar kollektiver Selbsttötung „aus Angst vor dem Tod“ kommen – siehe die Massensuizide auf der japanischen Insel Saipan im Sommer 1944 und in der vorpommerschen Kreisstadt Demmin am Kriegsende 1945.

Ein persönlicher Impuls: 1992 Kriegsangst in Makedonien

Am Abend des 16. Oktober 1992 hat der japanische Elektronikkonzern SONY in Skopje, der Hauptstadt der im Vorjahr proklamierten Republik Makedonien (ab 1993: the Former Yugoslav Republic of Macedonia, abgeküzt FYROM, seit 2018: Republik Nordmakedonien), seine örtliche Niederlassung mit einem Feuerwerk auf der Dachterrasse eines zentral gelegenen Bürogebäudes feierlich eröffnet. Die Folge war frappierend: Binnen einer halben Stunde waren sämtliche Ausfallstraßen, vor allem diejenigen nach Osten – zur Autobahn in Richtung Griechenland – und nach Westen – in Richtung Albanien – völlig verstopft. Grund war die jetzt zu Panik gesteigerte und seit Monaten vorherrschende Angst der hauptstädtischen Bevölkerung vor einem Angriff der Jugoslawischen Volksarmee aus dem nahe gelegenen Nachbarstaat Serbien, damals noch als Föderative Republik Jugoslawien firmierend.

Als vom Auswärtigen Amt sekundiertes deutsches Mitglied der CSCE Spillover Monitoring Mission to FYROM auf „Stallwache“ im gleichfalls im Skopjoter Stadtzentrum befindlichen Missionsbüro habe ich, durch ein ohrenbetäubendes Hupkonzert alarmiert, die im selben Gebäude befindliche Redaktion der Tageszeitung „Nova Makedonija“ aufgesucht, um den Grund für das Verkehrschaos herauszufinden. Die diensthabende Redakteurin teilte mir mit, dass das Gerücht eines serbischen Luftangriffs und/oder Artilleriebeschusses im Umlauf sei. Ich habe daraufhin die Kontaktnummern der Mission in den makedonischen Ministerien für Verteidigung, Inneres und Äußeres durchtelefoniert. Dort war entweder niemand auskunftsberechtigt oder, da es Freitagabend war, bereits niemand mehr zu erreichen. Eine Abfrage über das missionseigene Satellitentelefon beim Conflict Prevention Center in der Wiener KSZE-Zentrale ergab, dass dort keinerlei Hinweise auf eine serbische Militäraktion vorlagen. Dasselbe Ergebnis ergab dann die telefonische Nachfrage bei örtlichen Stringern internationaler Nachrichtenagenturen wie Reuters, AP und AFP. Es war eben nur ein Feuerwerk.

Mit anderen Worten: Kriegsangst + Feuerwerk = Massenflucht. Die makedonischen Behörden waren zu der Zeit bereits völlig überfordert. Erst nach etlichen Stunden gelang es den makedonischen Behörden mittels „Radiotelevizija Skopje“ die Lage zu beruhigen. An den Grenzübergängen nach Griechenland, Albanien und Bulgarien gab es trotzdem kilometerlange Staus von PKWs, Bussen, LKWs und Traktoren, da nicht alle Fliehenden über ein Autoradio oder Transistorradios verfügten. Und in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten verzehnfachten sich die Warteschlangen vor den Skopjoter Generalkonsulaten der Türkei, Deutschlands und Italiens, desgleichen diejenigen vor den Botschaften Kanadas, der USA und Australiens in Belgrad. Vor allem gut ausgebildete jüngere Makedonierinnen und Makedonier wollten jetzt nichts wie weg, häufig auch ganze junge Familien sowie viele, die Verwandte in der globalen makedonischen Diaspora – in Nordamerika, Ozeanien, Schweden, der Schweiz, Baden-Württemberg und andernorts – hatten.

Ein Feldforschungsprojekt in Estland, Südkaukasus und der Ukraine

Ein Feldforschungsprojekt des Global and European Studies Institute (GESI) der Universität Leipzig in Estland, dem Südkaukasus und der Ukraine bot die Möglichkeit, das Thema der Kriegsangst im post-sowjetischen Raum genauer zu untersuchen. Zwischen 2017 und 2019 unternahm ich mit einer Gruppe internationaler Doktorand:innen der Graduate School Global and Area Studies, Forscher:innen aus Deutschland, Kolumbien, der VR China, Ungarn, der Tschechischen Republik mehrere Exkursionen in Staaten, deren Bewohner in latenter und teils auch akuter Kriegsangst leben. Hinfahren, Hinsehen, Hinhören, Nachfragen und Aufschreiben, idealerweise kombiniert mit einem Vorbereitungs- und/oder Nachbereitungsseminar schien mir die beste Voraussetzung, dem Phänomen der Kriegsangst wissenschaftlich näherzukommen. Die erste Forschungsreise ging nach Estland.

Kriegsangst in Estland 2017

Dass das NATO- und EU-Land sprachlich in Estnischsprachige sowie Russophone, darunter nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer, Belarussen und aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken Stammende gegliedert ist, ist allgemein bekannt. Aber die linguistische Trennlinie ist überdies weitgehend deckungsgleich mit einer ethnokulturell-siedlungsgeographischen. Denn die Russischsprachigen leben zum einen in der Hauptstadt Tallinn und einigen früheren sowjetischen Militärstädten, zum anderen aber kompakt im Nordosten des Landes, also an der Grenze zur Russländischen Föderation. Zwar trennt die gewaltige Wasserfläche des Peipus-Sees auf einer langen Strecke die regelrecht verfeindeten Nachbarn, aber im äußersten Nordosten ist der Grenzfluss Narva nur ca. 100 Meter breit. Und das estländische Verwaltungszentrum der Region, die Stadt Narva, liegt nicht nur in Sichtweite der russländischen Grenzstadt Ivangorod, sondern ist mit dieser sowohl über eine Straßen- wie eine Eisenbahnbrücke verbunden. Narva ist mit 90 Prozent russischsprachiger Wohnbevölkerung zugleich die „russischste“ Stadt Estlands und damit überdies EU-weit das Zentrum der „Nation der Apatriden“, wie Hannah Arendt die Staatenlosen dieser Welt bezeichnet hat. Als Ex-Sowjetbürger (und als „Militärokkupanten“ Geschmähte) erhielten die Sprecher des Russischen im 1991 neuerlich unabhängig gewordenen Estland nicht automatisch die neue Staatsangehörigkeit wie etwa in Litauen, sondern mussten sich, wie auch in Lettland, darum bewerben. Dabei war der Nachweis über fließende Kenntnisse des Estnischen erforderlich – einer nahezu fremdwortfreien fennougrischen Sprache mit 14 Fällen bei Adjektiven, Pronomen, Substantiven und Nomina. Diesen Sprachtest zu bestehen war zumal für Ältere gänzlich illusorisch, wohingegen viele Jüngere die Kosten für privat zu finanzierenden Sprachunterricht nicht aufbringen konnten, wie sich auch andere aus prinzipiellen Gründen verweigerten. Und noch ein Grund ist zu nennen: Staatenlose benötigen zur Einreise in die Russländische Föderation kein kostenpflichtiges Visum, Bürger Estlands aber sehr wohl. Also warum Staatsbürger werden?

Narva und Umgebung, darunter die stalinistische Musterstadt Sillamäe, sind nicht nur sprachlich und kulturell, sondern auch medial russländisch geprägt: Hier dominieren die TV-Sender, die Printmedien und die politischen Sympathisanten des großen Nachbarn, und dies ungeachtet der estnischen Verwaltung, Justiz, Polizei u. a.. Und das Narva College, eine Außenstelle der traditionsreichen estnischen Universität Tartu, eine Gründung aus schwedischer Zeit von 1632, nimmt sich im Stadtzentrum wie ein soeben gelandetes Raumschiff aus.

Kleine Armee für kleines Land bietet wenig Schutz - Freiwillig waffentragende Zivilisten stehen bereit

Während die Bevölkerungsmehrheit Narvas keine Kriegsangst hegt, aber wohl auch keine Interventionshoffnung in Form einer Invasion, Okkupation und Annexion seitens Russlands – dazu sind die Plaketten mit dem EU-Symbol an renovierten Gebäuden, Brücken und öffentlichen Einrichtungen zu zahlreich und vor allem das Lohnniveau zu hoch –, ist die Lage in den meisten übrigen Landesteilen eine andere. Die Republik Estland mit ihren 1,33 Millionen Einwohnern kann sich nur eine kleine Armee, eine noch kleinere Kriegsflotte und nur eine rudimentäre Luftwaffe leisten. Daher wird das sogenannte Baltic Air Policing der Ostgrenze abwechselnd von anderen NATO-Staaten, darunter die Bundesluftwaffe, übernommen. Hinzu kommt die britisch geführte NATO Battle Group Estonia in Tapa mit einer Sollstärke von 1.000 Mann.

Dass all das im Falle eines konventionellen Angriffs der Boden-, Luft- und Seestreitkräfte der Russländischen Föderation wenig bis nichts helfen wird, ist der estnischen Mehrheitsbevölkerung, der russophonen Minderheit und den kleinen autochthonen Gruppen der russischsprachigen Altgläubigen und der orthodoxen Setu, beide ebenfalls im Grenzgebiet lebend, natürlich präsent. Entsprechend hoch waren und sind die Emigrationsraten in das benachbarte und sprachlich verwandte Finnland, in das kulturell eng verbundene Schweden, in andere EU-Staaten, hier vor allem in englisch- und deutschsprachige, nur minimal hingegen in die Russländische Föderation, die Ukraine oder Belarus‘.

Als Allheilmittel gegen, wenn nicht akute, so doch latente, Kriegsangst gelten Regierung und Militär Estlands das, was im Jugoslawien Titos nach dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei 1968 „erfunden“ wurde – eine auf Freiwilligen basierende paramilitärische Territorialverteidigungsorganisation unter dem Oberbefehl der Streitkräfte, und dies zusätzlich zum Reservistenstatus. Diese Kaitseliit (Verteidigungsbund) genannte Formation besteht aus freiwilligen waffentragenden Zivilisten jeglichen Alters und Geschlechts, die von Berufsmilitärs ausgebildet, geführt und bewaffnet werden und im Kriegsfall rasch mobilisiert werden können. Die klandestine Parole dabei ist „Eingraben, Überrollenlassen, Zuschlagen!“, neben einer offiziell erteilten (und daher straffreien) „licence to kill in wartime“.

Kaitseliit erfreut sich großen Zuspruchs in der Bevölkerung, und dies interessanterweise nicht nur in der Titularnation, sondern sogar bei nicht wenigen „europäisch“ orientierten Russischsprachigen, bei Schülerinnen und Schülern, Studenten und Studentinnen – wohl wegen der Kombination von Pfadfinderromantik, einer Art Uniform und Training an der Schusswaffe in naturnahen Zeltlagern und Überlebenscamps. In der Außendarstellung von Kaitseliit figurieren weder Kriegsangst noch Russophobie, dafür Vaterlandsverteidigung und Heimatliebe, desgleichen ein betonter Internationalismus in Form von Kooperationsbeziehungen zu ähnlichen Freiwilligenformationen in anderen EU- und GUS-Staaten. Unausgesprochen bleibt der eigentliche Impetus: Die eigene Kriegsangst durch martialischen Aktivismus zu bekämpfen.

Ungeachtet der – zahlenmäßig mikroskopischen – Stationierung von Battle Groups aus anderen NATO-Staaten in Litauen, Lettland und Estland gilt hier wie andernorts weiterhin muitatis mutandis das, was der finnischer Diplomat René Nyberg 1991 in die folgende Metapher gekleidet hat: „Wir fühlen uns wie die Bewohner eines Einfamilienhauses, das Wand an Wand mit einem einstürzenden Wolkenkratzer steht.“ Zwar ist der sowjetische Wolkenkratzer mittlerweile tatsächlich kollabiert – mit der Folge zahlreicher Kollateralschäden –, aber an derselben Stelle ist heute ein neues russländisches Hochhaus unverkennbar im Bau befindlich …

Feldforschung in Armenien und Berg-Karabach (2018)

Während die georgische Ost-West-Magistrale E 60 gut ausgebaut ist und nur von den zahlreichen freilaufenden Kuh-Herden periodisch blockiert wird, sind die Straßenverbindungen zum südlichen Nachbarn Armenien katastrophal – badewannengroße Schlaglöcher, deren Tiefe bei Regen nur zu erahnen ist. Im armenischen Gümri hat man andere Sorgen als Kriegsangst, denn diese zweitgrößte Stadt des Landes ist noch immer vom verheerenden Erdbeben bei Spitak 1988 gezeichnet: Fast alle Industrieanlagen Gümris stürzten damals ein – und sind nicht wiederaufgebaut. Angespannt ist auch die Stimmung in der dortigen 102. Militärbasis der russländischen Streitkräfte, einem von drei Stationierungsorten in Armenien. Die geschlossene Grenze zur Türkei ist nahe, auch diejenige zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan. Beide Grenzen, plus diejenige zur Islamischen Republik Iran, die offen ist, werden gemeinsam durch armenische Grenztruppen und russländische Streitkräfte patrouilliert, allerdings nicht durch die 102. Militärbasis, sondern durch den genannten FSB.

Der durch den Besuch aus Leipzig überraschte Diensthabende war durch unseren Wunsch, den Garnisonskommandeur gemäß schriftlicher Anfrage an das Militärbüro der russländischen Botschaft unter den Berliner Linden sowie mittels Weiterleitung seitens des deutschen Militärattachés in der Botschaft Moskau an das ebendort befindliche russländische Verteidigungsministerium zu sprechen, anfänglich irritiert, dann aber regelrecht gerührt, da er als Sohn eines sowjetischen Besatzungsoffiziers in der DDR, just in Leipzig, geboren wurde. Entsprechend telefonierte er seinen Chef Oberst Aleksej V. Poljuchovič, einen prototypischen Troupier, herbei, der zwar keinen Zugang zum Stützpunkt gewährte, aber in der Schleuse vor dem Propusk-Kiosk geduldig Rede und Antwort stand. Sein Auftrag war ihm ersichtlich unklar – einerseits wegen der konjunkturellen Schwankungen im russländisch-türkischen Verhältnis, andererseits wegen der offenkundig übergeordneten FSB-Präsenz. Fragen nach seiner Einschätzung zum Grenzkonflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien von 2016 sowie zu kurz zuvor erfolgten Übergriffen seiner Untergebenen auf armenische Dorfbewohner, zu denen er in armenischen Medien Stellung hatte nehmen müssen, blieben unbeantwortet.

Roadtrip nach Berg-Karabach

Ganz anders dann die Atmosphäre in der pulsierenden Metropole Jerewan, wo kurz zuvor eine Variante der „samtenen Revolution“ stattgefunden hatte – dies nicht zuletzt mit der Unterstützung des boomenden IT-Sektors in der Hauptstadt Armeniens. Kriegsangst war zumindest im Außen- und Verteidigungsministerium nicht zu spüren: Hier schien man sich noch im Erfolg des Krieges der Jahre 1992-1994 über Aserbaidschan mit der de facto-Angliederung Nagorno-Karabachs und der Okkupation großer weiterer aserbaidschanischer Territorien zu sonnen. Als Beleg galt die kurz zuvor eröffnete zweite Straßenverbindung zwischen dem „Mutterland“ und dem vorgeblich unabhängigen Staat Nagorno-Karabach, vom armenischen Vardenis am Südufer des Sevan-Sees über den 2.400 Meter hohen Vardenyats-Gebirgspass nach Martakert im Norden des seit 2017 als „Republik Arzach“ firmierenden Gebildes. Der von Aserbaidschan angezettelte „Kleinkrieg“ mit Armenien von 2016 wurde als bloßer Grenzzwischenfall abgetan – nicht als Test für das, was dann im Herbst 2020 geschah.

Wiederum anders dann allerdings die Eindrücke einer Fahrt durch den Süden des Landes entlang der Grenze zur besagten aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan: Hier wurde zwischen der armenischen Hauptverbindung nach Berg-Karabach und Iran südlich der Hauptstraße auf etlichen Kilometern ein ca. zehn Meter hoher Erdwall aufgeschüttet – um aserbaidschanische Scharfschützen daran zu hindern, armenische und andere Fahrzeuge zu beschießen. Nach Passieren des mittlerweile berühmten Latschin-Korridors zwischen Armenien und Berg-Karabach (durch armenisch okkupiertes Gebiet Aserbaidschans hindurch) ging es dann steil bergauf in den „Schwarzen Garten“, also in die vormals Autonome Region Nagorno-Karabach innerhalb der ebenfalls ehemaligen Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik, nach Schuschi (Şuşa) und dann bergab in die „Hauptstadt“ Stepanakert (Xankəndi).

Gesellschaft in permanenter Kriegsvorbereitung

Dass sich hier eine Gesellschaft wenn nicht in akuter Kriegsangst, so doch in permanenter Kriegsvorbereitung befindet, wurde bei einem Treffen mit der Rektorin der Staatlichen Arzach-Universität sowie mit Lehrkörper und Studierenden deutlich: Die letztgenannten waren sämtlich weiblich. Die Frage nach männlichen Studierenden löste Verwunderung aus: „Die sind doch alle an der Front!“ Es folgte: Die durch den Pressesprecher des Verteidigungsministeriums geführte Besichtigung eines Panzerregiments. Nach einem Treffen mit dem schweigsamen und kettenrauchenden Kommandeur, einem Veteranen des Krieges Anfang der 1990er Jahre, ging es über das weitläufige Kasernengelände zu den Hochbunkern, in denen sich die Militärtechnik aus sowjetischen Tagen befand – Kampfpanzer, Haubitzen, BTRs (Radpanzer), Artillerie auf Lafetten u. a. Die Bunkertore waren weit geöffnet und die jeweilige Besatzung war in voller Kampfmontur in Mannschaftsstärke davor salutierend angetreten. Dem Presseoffizier war überdies wichtig, die Symbole auf den Kanonenrohren zu erklären: Jeder rote Stern dort symbolisiert ein vernichtetes aserbaidschanisches Ziel. Fragen beantwortete er bereitwillig – bis auf eine: Woher bezieht das Regiment für seine sowjetische Militärtechnik die Ersatzteile, Verschleißteile und Schnellverschleißteile? Dafür sei eine andere Abteilung im Ministerium zuständig …

Das überraschend siegreiche Ende des Krieges von 1992-1994 hat die armenischen Gesellschaften in der Republik Armenien und in Berg-Karabach über 26 Jahre hinweg mehrheitlich in trügerischer Sicherheit gewiegt – und dies ungeachtet kleinerer Inzidente und des größeren Grenzkonflikts von 2016. Umso verheerender war dann die Wirkung des High-Tech-Angriffs mit bewaffneten Drohen auf Stepanakert, Schuschi und andere Teile Berg-Karabachs vom Herbst 2020, der in der Eroberung des gesamten Südens von Arzach durch die Armee Aserbaidschans und Söldnertruppen aus Syrien sowie in der panischen Flucht der armenischen Siedler aus den seinerzeit von Armenien okkupierten Gebieten Aserbaidschans um Nagorno-Karabach herum resultierte.

Kriegsangst in Armenien und Berg-Karabach heute

Als Historiker ist man zwar aufgrund einer déformationation professionelle ja schon berufsbedingt Zweckpessimist, aber mitunter überholt einen die Realität dann doch: Dass die Streitkräfte Armeniens und Nagorno-Karabachs dem Großangriff Aserbajdschans mittels türkischer Bayraktar-Kampfdrohnen und ihrem israelischen Heron-Äquivalent 2020 so gut wie gar nichts entgegen zu setzen hatten, war offenkundig selbst für Militärexperten eine Überraschung. Keine solche war der massive Truppenaufbau der Russländischen Föderation an den Nord-, Ost- und Südgrenzen der Ukraine 2021 als zunächst diffuses Drohpotential – aber wofür oder wogegen eigentlich? Erzeugen „nur“ von Kriegsangst oder doch Vorbereitung einer klammergriffartigen Invasion? Aber selbst falls ja: Jetzt sofort oder zu einem späteren – günstigeren – Zeitpunkt? Und falls wiederum ja: „Nur“ Novorossija von Maripol bis Odessa und Tiraspol plus Ostukraine mit Charkiv und Kramatorsk oder auch die Mitte des Landes mit Kiev, gar dem post-habsburgischen Westen?

Ungeachtet der – späten – Intervention der „Schutzmacht“ Armeniens in Gestalt Russlands, was in einem höchst unsicheren und nur temporären Status quo zwischen den Kriegsgegnern in Baku einerseits sowie Jerewan und indirekt Stepanakert andererseits resultierte, ist eine wie auch immer geartete Lösung des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um (Rest-)Berg-Karabach derzeit nicht absehbar. Entsprechend herrscht nicht nur in Stepanakert und Umgebung, sondern auch im Osten und Süden Armeniens heute hochgradige Angst vor einer weiteren Runde des militärischen Konflikts – diesmal mit dem Ziel der Wiederherstellung aserbaidschanischer Kontrolle über das gesamte beanspruchte Staatsgebiet, sprich Auslöschung der Republik Arzach.

Dies auch wegen des Beharrens Bakus auf einer exterritorialen Straßenverbindung in Gestalt der in unmittelbarer Nähe der armenisch-iranischen Grenze verlaufenden Europastraße 002 in die eigene, an die Türkei grenzende Enklave Nachitschewan – was der Möglichkeit einer Unterbrechung der Landverbindung Armeniens zum benachbarten Iran gleich käme, mit schwerwiegenden Folgen für die Versorgung des Landes mit Energieträgern wie iranischem Erdöl und Derivaten. Der südkaukasische Kleinstaat wäre dann zu Lande von drei Seiten abgeschnitten und nur noch die Grenze nach Georgien bliebe offen. Einem türkisch-aserbaidschanischen Zangenangriff auf Armenien mit dem Ziel einer „Wiedervereinigung“ der beiden muslimischen, „panturanischen“ und turkophonen „Bruderstaaten“ Türkei und Aserbaidschan stehen zwar die aktuellen geopolitischen Interessen der Russländischen Föderation entgegen, aber das in Ankara und Baku derzeit propagandistisch vertretene gemeinsame Feindbild einer nicht nur „christlichen“, sondern – wohl noch schlimmer – demokratisch verfassten Barriere namens Armenien ist wirkmächtig. Kein Wunder also, dass sich nicht nur die Bewohner des geschrumpften Berg-Karabach akut bedroht fühlen, sondern auch viele Bürger der Republik Armenien sich zwischen dem aserbaidschanischen Hammer und einem türkischen Amboss wähnen. Die – absurde – Parole der Leipziger LEGIDA-Demonstrationen „Putin, pomogi!“ (Putin hilf! – wobei eigentlich?) nimmt sich in Stepanakert und Jerewan daher deutlich realitätsbezogener aus.

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