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Dass diese Ringvorlesung eine außergewöhnliche sein wird, zeigt bereits das Motto der kommenden zwei Semester: „Wir halten es für fahrlässig, über uns zu schweigen.“ – ein Zitat aus einem Gedicht des ukrainischen Schriftstellers Serhij Žadan. Die Rektorin sowie der Dekan der Philologischen Fakultät hielten eingangs Grußworte, in denen Sie angesichts der aktuellen Ereignisse die Bedeutung der Slavistik als Wissenschaft, und der Geisteswissenschaften insgesamt, hervorhoben. Die Rektorin wolle sich dafür einsetzen, dass die Slavistik an der Universität gestärkt wird. Die Auftaktveranstaltung im Vortragssaal der Bibliotheca Albertina war gespickt mit Botschaften, noch bevor die erste Akteurin der Veranstaltungsreihe auf die Bühne trat.

Neben dem Institut für Slavistik und dem Historischen Seminar sind auch das Polnische Institut und das Leibnitz Institut für Geschichte und Kultur des Östlichen Europas (GWZO) Veranstalter dieser Reihe, die für die kommenden zwei Semester konzipiert ist und verschiedene Schwerpunkte setzen wird. Rektorin Prof. Dr. Eva Inés Obergfell zollte in einer Videobotschaft ihren Respekt allen Beteiligten gegenüber, innerhalb kürzester Zeit eine solch umfangreiche Veranstaltungsreihe organisiert zu haben. „Der Krieg, die politische, humanitäre Krise, auch mit ihren Auswirkungen auf Deutschland, zeigt uns den Wert der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Philologien, der Geschichtswissenschaft und der Regionalwissenschaften und wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass das Wissen nachgefragt und vermittelt wird.“ Der Wissensschatz in diesen Disziplinen sei wertvoll und jetzt zeige sich, „wie wertvoll die Ukraine-Kompetenz ist und dass wir uns gegenüber der Landes- und Bundespolitik für eine stärkere Förderung einsetzen müssen.“ Ukraine-Kompetenz sei wichtig als Orientierungswissen für die Politikberatung – und konkret jetzt und hier – für die ukrainischen Schulkinder und die Lehrerbildung im Rahmen der Daseinsvorsorge. Die Rektorin wolle sich für eine stärkere Förderung einsetzen. Zahlreiche weitere Institute der Universität Leipzig und außeruniversitäre Institute auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften in Leipzig zeigten die breite Expertise, die hier vorhanden sei. Die Interdisziplinarität, von den Kulturwissenschaften bis zum Völkerrecht, der Ethnologie und der Konfliktforschung sind hier vereint: „Lassen Sie uns das weiter gemeinsam in Wert setzen“, so Obergfell. Diese Art der Kooperationen brauche es.

Der Dekan der Philologischen Fakultät, Prof. Dr. Beat Siebenhaar, bekundete seine Dankbarkeit für diese Art der Ringvorlesung, wenn es auch ein trauriger Anlass sei. Er stellte die Slavistik mit der vorhandenen Ukraine-Kompetenz als Alleinstellungsmerkmal der Universität Leipzig heraus, diese Disziplin mit Fokus auf die Ukraine sei ansonsten nur an den Universitäten in Greifswald und Haifa in Israel zu finden: „Der Krieg hat das vergessene Grenzland in Erinnerung gerufen. Zentral ist der akademische Aspekt. Wir können unsere Expertise einbringen.“ Die zurückgefahrenen Ressourcen in der Slavistik in der Vergangenheit führte er darauf zurück, „weil sie nicht im Bewusstsein war. Das rächt sich jetzt. Der Krieg zeigt, wie wichtig kulturelles Verständnis ist.“ Als Beispiel nannte er das Ukrainisch-Deutsche Wörterbuch, das an der Slavistik entstanden ist, online wie auch gedruckt. Es sei einzigartig im deutschsprachigen Raum, könne aber voraussichtlich nicht mehr weiter geführt werden, da der Wissenschaftler, der maßgeblich hinter diesem Projekt steht, demnächst in den Ruhestand ginge und die Stelle, Stand jetzt, nicht nachbesetzt werde.

  • "Wir Geisteswissenschaftler in Leipzig haben die Kapazitäten gebündelt. Wir haben Wörter“
    JP Dr. Anna Artwinska

 

Slavistik-Institutsdirektorin JP Dr. Anna Artvinska ging auf das Motto der Ringvorlesung ein. Der Autor Serhij Žadan ist in Luhansk geboren und lebt seit seiner Kindheit in Charkiw. Er gelte als bekannteste Stimme der ukrainischen Gegenwartsliteratur, ist Organisator von Musik- und Literaturfestivals. „Was kann das geschriebene Wort in Zeiten der Gewalt und des Krieges leisten?“, fragt Artwinska. Žadan habe gesagt: „Wir haben gelernt, über unsere Vergangenheit zu schreiben. Es ist uns wichtig, über uns zu schreiben.“ Das umso mehr, seit die Krim annektiert wurde und der Krieg im Donbass begann. „Wir Geisteswissenschaftler in Leipzig haben die Kapazitäten gebündelt. Wir haben Wörter“, so Artwinska. Dr. Jan Gerber vom Dubnow-Institut nannte unter anderem diese Ringvorlesung als „Politische Intervention mit Mitteln der Literatur und Wissenschaft.“

„Eine Brücke aus Papier - Deutsch-ukrainische Schriftstellertreffen“

Nach weiteren Grußworten von Vertrer:innen der beteiligten Institute trat Prof. Dr. Kerstin Preiwuß ans Rednerpult, Professorin für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut (DLL) der Universität Leipzig und Essayistin. Sie bezeichnete das Motto der Ringvorlesung als „Ankündigung einer Tat“ und sprach über ihre eigenen Erlebnisse und Begegnungen mit ukrainischen Schriftsteller:innen seit 2015, dem persönlichen und literarischen Austausch. Die Begegnungen mit 15 ukrainischen Schriftsteller:innen fanden unter andem in Dnipropetrowsk, Charkiw und Mariupol statt, um Beziehungen wieder herzustellen. Die Treffen standen unter der Überschrift „Eine Brücke aus Papier – Deutsch-ukrainische Schriftstellertreffen" und hatten zum Ziel, Kenntnis über die ukrainische Geschichte zu erlangen. Das Problem der Vergangenheit sei gewesen, dass man selten mit Ukrainern sprach, sondern über sie und ihr Land. Preiwuß stellte die Lyrik der Avantgarde vor, die während des I. bis kurz vor Beginn des II. Weltkriegs auflebte und ihr vorläufiges Ende teilweise durch sowjetische Zensur fand. Die Essayistin sprach über die schwere Zeit der ukrainischen Literatur in der Sowjetunion, des Stalinismus, und sagte: „Jetzt gibt es sie wieder, in der Zeit des Krieges.“ Gezeigt wurden Ausschnitte des Films „Nachtzug nach Mariupol“, der das Schriftstellertreffen in Mariupol 2018 dokumentiert: Die Schriftsteller:innen reisten gemeinsam im Nachtzug in die Industriemetropole, zwanzig Kilometer von der Frontlinie des Donbas-Krieges entfernt. Die Literaten diskutierten, so Preiwuß, untereinander auch, ob ihr Treffen angesichts der Nähe zur Frontlinie des Donbas-Kriegs überhaupt dort stattfinden solle. Die entschieden sich dafür. Auch für die ukrainischen Literaten war bis dahin Mariupol geografisch weit weg, da sie eher in der Westukraine beheimatet sind.

Beschlossen wird für das Sommersemester die Ringvorlesung mit einer Podiumsdiskussion mit geflüchteten Wissenschaftler:innen aus der Ukraine, für die auch der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk angefragt ist. Veranstaltungsorte sind abwechselnd der Vortragssaal der Bibliotheka Albertina und das Polnische Institut, Markt 10.

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