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Altgriechische Texte im digitalen Zeitalter: Mithilfe digitaler Tools lesen und übersetzen Philologie-Studierende Ausschnitte der „Chronographie“ von Johannes Malalas. „Einzelne Ereignisse der römischen und byzantinischen Kaiserzeit um das 6. Jahrhundert werden in der Chronographie knapp und einfach berichtet, wie in einer Art mittelalterlichen Boulevardzeitung“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Anna-Luisa Burg. Byzantinische Philologie wird in ihrem Seminar interdisziplinär gedacht.

Jeden Montag lesen und besprechen Anna-Luisa Burg, seit 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der byzantinischen und neugriechischen Philologie, und ihre Studierenden (B. A. Griechisch-Lateinische Philologie, M. A. Klassische Antike sowie angehende Griechisch-Lehrer:innen) Ausschnitte der „Weltchronik“ von Johannes Malalas. „Lesen“ meint dabei immer auch „vorlesen“ und „übersetzen“, sodass die Studierenden ihre Aussprache üben und ihren Wortschatz an alt- und mittelgriechischen Vokabeln ständig erweitern können. Gleichzeitig dient Burgs Lehrveranstaltung als Einführung in byzantinische Literatur, konzentriert sich also auf griechische Literatur im frühen Mittelalter.

Altgriechisch digital – wie geht das?

Muten digitale Methoden und klassische Philologie für Außenstehende auf den ersten Blick als ungewohnte Partner an, wird schnell klar, wie wichtig und zentral Digitalisierung für das Fach ist: „Die Chronographie bietet uns eine hervorragende Textgrundlage. Der aktuelle Kommentar zu Malalas‘ Chronographie beispielsweise ist ein Forschungsprojekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften“, erzählt Burg. „Die Kollegen und Kolleginnen publizieren digital und quasi parallel zu ihrer Arbeit am Text.“ Das wiederum ermöglicht es anderen Altphilolog:innen, sofort auf neueste Erkenntnisse und Entwicklungen reagieren zu können.

Anna-Luisa Burgs Seminar folgt damit auch dem Wunsch der Studierenden, vermehrt mit digitalen Methoden zu arbeiten und diese in der Lehre kennenzulernen. Das funktioniert besonders gut, so die Dozentin, wenn man die vielfältigen Möglichkeiten direkt an einem konkreten Text ausprobieren kann. Schon ganz routiniert arbeiten ihre Studierenden mit Perseus – nicht etwa dem Helden der griechischen Sagenwelt, sondern mit einer gleichnamigen digitalen Bibliothek, die gebeugte Formen eines Wortes erkennen kann und den Studierenden beim spontanen Übersetzen im Seminar hilfreich zur Seite steht.

„Ein besonders spannendes, digitales Tool ist eAQUA“, berichtet Burg. „Das Projekt verfügt über vielfältige Suchfunktionen und erleichtert so beispielsweise die Analyse von Zitationen.“ Der Clou: eAQUA, mittlerweile im Bereich „Digitale Geschichtswissenschaften“ an der Universität Trier angesiedelt, wurde ursprünglich an der Universität Leipzig entwickelt und zeigt, wie produktiv eine Zusammenarbeit zwischen altertumswissenschaftlichen Fächern und der Informatik sein kann.

 „Wie eine Art mittelalterliche Boulevardzeitung“

Neben der digitalen Komponente sprechen noch weitere Aspekte für die "Chronographie" als geeignete Lektüre: Der Text kann, aus literaturgeschichtlicher Perspektive, zwei unterschiedlichen Epochen zugeordnet werden, nämlich der Spätantike sowie der Frühbyzantinistik. Auch sprachlich ist er besonders interessant, da Malalas zum Teil umgangssprachliche Ausdrucksweisen nutzt. Dadurch werden sprachgeschichtliche Entwicklungen deutlich, die es den Studierenden ermöglichen, Sprachstufen hin zum Neugriechischen zu entdecken und zu verstehen, wie sich das Altgriechische im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat.

„Außerdem hat die Chronographie den entscheidenden Vorteil, dass sie aus meist recht kurzen Absätzen besteht“, erklärt Anna-Luisa Burg. „Einzelne Ereignisse werden knapp und einfach berichtet, wie in einer Art mittelalterlichen Boulevardzeitung.“ Die Länge der Texte erlaubt es ihr und den Studierenden, innerhalb einer Seminarsitzung nicht nur zu übersetzen, sondern das Gelesene auch gleich zu analysieren und in einen methodischen Kontext einzuordnen.

Byzantinistik interdisziplinär denken

Für die einzelnen Sitzungen hat Burg entsprechende Fokuspunkte gesetzt: Zu Beginn des Semesters startet sie mit einem historischen Überblick und der zentralen Frage nach den Quellen, die Malalas in seiner Chronik verwendet – relevante Aspekte, die die Studierenden auch auf andere Lehrveranstaltungen übertragen und für ihr weiteres Studium gut anwenden können. Anschließend steigen sie direkt in den Text ein, diskutieren Merkmale christlicher Chroniken und analysieren Malalas‘ Sprachgebrauch.

Burg betont aber auch, wie wichtig es ist, die Texte stets in ihren entsprechenden Kontext zu stellen. In einem Kapitel der "Chronographie" beschreibt Malalas eine Kometenerscheinung und erzählt, wie sich gleichzeitig das Verhalten der Menschen verändert hat.„Hier stellt Malalas einen kausalen Zusammenhang zwischen einem Naturereignis und Ereignissen auf der Erde her“, erläutert die Dozentin. „Das ermöglicht uns Rückschlüsse auf das damals vorherrschende Gottes- und Weltbild. Auch ist die Art und Weise, wie Malalas den Kometen beschreibt, für andere Wissenschaften interessant.“

Wie anschlussfähig die Byzantinistik und die Klassische Philologie an andere Geisteswissenschaften sind, merkt man etwa, als sich Anna-Luisa Burg und ihre Studierenden über wesentliche Merkmale von Geschichtsschreibung austauschen. Dabei besprechen sie hauptsächlich Ideen des amerikanischen Historikers und Literaturwissenschaftlers Hayden White, lesen und übersetzen aber auch spontan Aristoteles‘ Unterscheidung von Dichtung (poiêsis) und Geschichtsschreibung (historia).

„Die antike und byzantinische Historiographie“, erklärt Burg, „konnte als Teil der Rhetorik begriffen werden. Historiographen waren also geübt darin, stilistische Mittel optimal einzusetzen, um ihr Publikum von der eigenen Wahrheit zu überzeugen.“ Daher, so die Dozentin, waren sich antike und byzantinische Geschichtsschreiber (und hier, fügt Burg an, müsse man nicht gendern – „in der Regel waren das nur Männer“) der Literarität ihrer Texte sehr bewusst. Anna-Luisa Burg weiß, wovon sie spricht: in ihrer eigenen Dissertation befasst sie sich mit imperialer Weiblichkeit, erstellt eine Typologie von Frauen, die am herrschaftlichen Entscheidungsprozess beteiligt sind und versucht, ihre Idealeigenschaften zu ermitteln. Dabei bezieht sie sich hauptsächlich auf ihre Darstellung in der spätbyzantinischen Historiographie.

Gemeinsam Neues ausprobieren

Vier Seminarsitzungen gegen Ende des Semesters hat Burg für den Themenkomplex „Übersetzungspraxis mit digitalen Hilfsmitteln“ reserviert. Was für die Studierenden besonders spannend ist, macht auch der Dozentin selbst viel Spaß: „Häufig weisen mich meine Studierenden auf digitale Tools hin, die ich selbst noch gar nicht kannte“, erzählt sie. Dass der Kurs daher einiges an Vorbereitung verlangt, ist für Burg Herausforderung und Freude zugleich. Auch die Zusammenarbeit mit ihren Studierenden, die im Seminar begeistert und intensiv mitarbeiten, hebt sie positiv hervor.

Am Ende einer Sitzung will Burg wissen: „Gibt’s noch Fragen?“ Wo in anderen Veranstaltungen oft nur der Kopf geschüttelt wird, heißt es hier: „Viele.“ Anna-Luisa Burg und ihre Studierenden freuen sich auf weitere anregende Diskussionen.

 

  • Das Seminar „Johannes Malalas, Chronographie – Digitale Perspektiven“ (Modul 04-015-1007) ist eine von über 800 philologischen Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2023.

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