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Wenn Journalist:innen Missstände aufdecken, geht dem meist eine lange und intensive Recherche voraus, oft geleistet durch ein größeres Recherchenetzwerk. Wie gelingt dies aber in der Praxis? Kann man das in der Ausbildung üben? Offenbar ja. Der "European Green Deal", der Grüne Deal der Europäischen Union, war Gegenstand einer vielschichtigen Recherche eines internationalen Teams, das aus Journalismus-Studierenden bestand. In Deutschland wurden die Ergebnisse des "Crossborder Journalism Campus" jüngst von MDR Wissen veröffentlicht. Ein Erfahrungsbericht von Sophia Seifert, Studentin des M. Sc. Journalismus an unserer Universität:

Im internationalen Team recherchieren, komplexe Zusammenhänge aufdecken, heikle Machenschaften durchdringen und verantwortliche Personen zur Rechenschaft ziehen – investigativ arbeiten à la „Panama Papers“: Für viele von uns Journalismus-Student:innen eine wahre Traumvorstellung! In den vergangenen beiden Semestern konnten wir diese Art der journalistischen Arbeit etwas näher kennenlernen. Gemeinsam mit Studierenden der Universität Göteborg und dem Centre de Formation des Journalistes in Paris haben wir im Rahmen des Erasmus+-Projekts „Crossborder Journalism Campus“ ausprobiert, wie es ist, Teil eines länderübergreifenden Rechercheteams zu sein und an einem gemeinsamen Thema mehrere Monate lang zu arbeiten.

Oberthema des Projekts war der European Green Deal, ein Gesetzespaket der EU, das wir in kleineren Gruppen aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet haben. Wir haben uns unter anderem mit dem Emissionshandelssystem beschäftigt, mit dem gefragten Rohstoff Lithium, mit den Einstellungen rechter Parteien in Europa zu Klimapolitik und dem Düngemitteleinsatz in der Landwirtschaft. Unsere Recherchen wurden in den letzten Wochen unter anderem bei MDR Wissen, bei Le Monde und dem EU Observer veröffentlicht.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Zu sehen ist eine Gruppe Studierender in einem Plenarsaal. Sie sind zu Gast im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
Besuch im EU-Parlament: Studierende des Leipziger Journalismus-Masterstudiengangs zu Gast im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Foto: Uwe Krüger/Universität Leipzig

Bis zu diesem Punkt lag aber einiges an Arbeit vor uns! Der Crossborder Journalism Campus begann Oktober 2022 mit einer gemeinsamen Woche in Brüssel, bei der wir Studierende uns gegenseitig ein wenig kennenlernen konnten, bevor es in die Remote-Arbeitsphase ging. Abgesehen davon waren die Tage in Brüssel gut gefüllt: Wir bekamen ein paar spannende Einblicke von gestandenen Investigativjournalisten wie Harald Schumann, einem Mitgründer von „Investigate Europe“, und Edouard Perrin, einem Mitglied des International Consortium of Investigative Journalists, das auch schon bei den „Panama Papers“ dabei war; wir besuchten das EU-Parlament und konnten sowohl Lobbyisten als auch ein Mitglied einer Lobbywatch-Organisation mit unseren Fragen löchern. Und natürlich haben wir angefangen, uns näher mit dem Grünen Deal der EU zu beschäftigen.

Ich selbst habe in den letzten Monaten zum Just Transition Fund (JTF) recherchiert, von dem insbesondere kleine Unternehmen profitieren sollen, die von der Kohleindustrie abhängig sind und die sich jetzt angesichts des Kohleausstiegs umorientieren müssen. In meinem Rechercheteam waren zwei Französinnen, ein Italiener, eine Griechin, eine Spanierin, eine Schwedin und eine weitere Deutsche vertreten. So konnten wir gut untersuchen, wie der Fonds in verschiedenen europäischen Ländern umgesetzt wird und welche Probleme sich ergeben. Trotz landesspezifischer Herausforderungen gab es doch sehr ähnliche Probleme überall: bürokratische Hürden, verspätete Förderstarts, die Sorge, dass kleine Unternehmen letztendlich gar nicht erreicht werden.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Studierende und Dozierende aus Leipzig, Göteborg und Paris beim gemeinsamen Studienaufenthalt in Brüssel im Oktober 2022
Studierende und Dozierende aus Leipzig, Göteborg und Paris beim gemeinsamen Studienaufenthalt in Brüssel im Oktober 2022. Foto: Universität Leipzig

Als Gruppe haben wir uns von November bis Mai immer einmal die Woche über Zoom getroffen, um uns über unsere jeweiligen Recherchen auszutauschen. Diese Treffen waren sehr wichtig für uns – hier konnten wir nicht nur von unseren aktuellen Erkenntnissen berichten, sondern auch erzählen, wo wir nicht weiterkamen, und uns gegenseitig um Rat fragen. Wir wohnten alle sehr weit weg voneinander bzw. die Göteborger Studierenden waren auch öfter mal unterwegs. Durch die Online-Treffen wurde man jede Woche daran erinnert, dass man nicht nur allein für sich im jeweiligen Land recherchierte, sondern dass man ein ganzes Team im Rücken hatte, dass vor genau den gleichen Herausforderungen stand wie man selbst auch: Interviewpartner:innen antworteten nicht; Hypothesen zu möglichen Missständen lösten sich im Verlauf der Recherche in Luft auf; kompliziert geschriebene Dokumente über Förderbedingungen ließen sich nur langsam durchdringen.

Als Journalistin bin ich da, um die befragte Person und ihre Version der Dinge zu verstehen. So gut wie jede Frage, die zu diesem Ziel führt, ist erlaubt.

Sophia Seifert

Ich hatte selbst vorher noch nie so lange zu einem Thema recherchiert und auch nicht so viele Menschen dazu befragt. Meine deutsche Kollegin und ich haben uns insbesondere mit der Umsetzung des JTF in der Lausitz beschäftigt. Hier war es sehr spannend, nicht nur unterschiedliche Meinungen zu dem Fonds zu hören, sondern auch ein Gefühl für die Menschen vor Ort zu bekommen. Die Lausitz steht in vielerlei Hinsicht vor großen Herausforderungen und Umbrüchen – und es war eine sehr bereichernde Erfahrung, mit Menschen zu sprechen, die voller Optimismus und Tatendrang waren und so viel Potenzial in der Region sehen, das es nur gilt auszuschöpfen.

In Bezug auf meine journalistische Arbeit habe ich gelernt, dass man insbesondere bei längeren Recherchen immer auch auf Leute treffen wird, deren Informationen nicht wirklich weiterhelfen. Das ist normal und sollte nicht davon abhalten, einfach weiterzusuchen. In einer Erkenntnis wurde ich immer wieder bestätigt: Natürlich ist es wichtig, mit einem soliden Grundverständnis der Thematik in ein Interview zu gehen, um Aussagen auch kritisch hinterfragen zu können. Aber als Journalistin bin ich da, um die befragte Person und ihre Version der Dinge zu verstehen. So gut wie jede Frage, die zu diesem Ziel führt, ist erlaubt. Das ist eine Einstellung, die ich mir für meinen weiteren Berufsweg auf jeden Fall erhalten möchte.

 

Sophia Seifert, Studentin des M. Sc. Journalismus

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