Heidelberger Wurzeln
Gleichberechtigung war schon immer ein Thema für sie, ohne es früh so zu benennen. Schon als kleines Mädchen in Heidelberg störte sich Milena Bartels an Begrenzungen. „Du bist ein Mädchen, du kannst das nicht“ - gab es für sie nicht. Ebenso keine Vorbilder für ein Medizinstudium. Als Teeny wollte sie noch Ingenieurin werden, dann begeisterte sie die Biochemie und ein Praktikum in einem Forschungszentrum. Nach dem Abitur hat sie ein weiteres in einem gastroenterologischen Forschungslabor gemacht, damals noch in Kiel. Grundlagenforschung mit menschlichem Probenmaterial und Geräten, die auch in der Raumfahrt benutzt werden, das war schon eine faszinierende Hausnummer, erinnert sie sich: „Dabei habe ich mich immer auch gefragt, wie es wohl den Patient:innen geht, aber das erfährt man in einem Labor natürlich nie. Die Biochemiker:innen dort gaben mir dann noch zu bedenken, dass sie mit ihrem Studium zwar hervorragend ausgebildet, die medizinische Forschung aber einfacher finanziert werde. Also bin ich auf Medizin umgeschwenkt und habe vorher noch ein Pflegepraktikum in der Neurologie absolviert.“ Da wurde es dann erfüllt, das starke Interesse an den Patient:innen.
Leipziger Berufsausbildung
Also weiter mit Medizin an der Universität Leipzig. Dass es ein Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften gibt, war neben den vielen Parks und der Subkultur für sie überzeugend. Der Ort war für sie 2011 ein komplett unbeschriebenes Blatt und sie, abgesehen von Ostberlin, noch nie so weit im Osten gewesen. „Ich fand das alles sehr aufregend, auch wenn der Ton mir erst rauer als in Heidelberg erschien, ich dann aber eine andere Art von Herzlichkeit entdeckte und lieben lernte. Wo Heidelberg etwas behäbig daher kommt, war hier viel im Aufbau, Raum für Kultur und kleine Lädchen, Versuchsszenen, Kunstausstellungen in Hinterhöfen.“ Und noch etwas fiel ihr im Vergleich auf: „In Leipzig gab es nicht viele Menschen mit Migrationshintergrund, es war sehr weiß. In Heidelberg war das anders, dort leben seit Jahrzehnten ganz viele Menschen unterschiedlicher Herkunft und haben total den Heidelberger Dialekt angenommen. Das hat mich in Leipzig anfangs irritiert. Ansonsten fand ich meine Kommilitoninnen und die Uni-Zeit hier ziemlich cool.“ Sie blieb und lernte einige Leute kennen, die zudem auch politisch aktiv sind.
Bunt gemischtes Wohnumfeld
Früh im Studium ist sie mit 22 schwanger geworden, hat ausgesetzt und stieg nach fünf Monaten in Teilzeit wieder ein. „Die Uni ist mir entgegengekommen, ich habe viel schieben können, damit es zu unserem Familienalltag passt. 2016 begann ich meine Promotion bei Prof. Peter Kovacs (Anm. d. R. Adipositas- und Diabetesgenetik an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig). Ich hatte Lust, mich so richtig in die Forschung zu vertiefen und veröffentlichte auch ein Paper zu meiner sehr aufwendigen, experimentellen Arbeit im endokrinologischen Forschungslabor. Eine super Zeit“, strahlt Bartels noch heute.
Der Leipziger Osten, wo sie in einer Familien-Wohngemeinschaft lebt, ist bunt und im Wandel, viele unterschiedliche Menschen treffen aufeinander. „Man wird für die individuellen, feinen Unterschiede sensibilisiert, die oft wenig mit den herkömmlichen Vorurteilen zu tun haben. Arbeiter:innen, Studis, alte Menschen, junge Familien, viele Nationalitäten und Religionen und eine immer größer werdende queere Szene. Ein gelingendes Miteinander ist möglich, wenn alle aufeinander zugehen, aber das ist nicht immer einfach. Man muss auf allen Seiten lernen, damit zu leben.“
Queerness und Transidentität
Seitdem ihre Tochter auf der Welt ist, wurde die Genderfrage größer und Milena Bartels beschäftigte sich intensiv mit Erwartungen und Geschlechterrollen. „Wie wollen wir dieses kleine Wesen prägen, wie als Familie leben? Es ging uns um Gleichberechtigung in der Beziehung, um den erweiterten Familienkreis, um die Akzeptanz von Grenzen, wir haben viel ausdiskutiert. Irgendwann habe ich mich auch medizinisch für Queerness und Transidentität interessiert. Ich bin in die Gesellschaft der Sexualwissenschaften eingetreten, habe Fachtagungen besucht.“ Als ihre Tochter im Grundschulalter war, wollte sie nicht nur „Bullerbü-Vater-Mutter-Kind“-Bücher lesen. „Ich wollte Geschichten, in denen es auch andere Familienmodelle gibt, ohne dass diese Andersartigkeit als Charaktereigenschaft herausgehoben ist oder irgendwie problematisiert wird. In der Stadtbibliothek habe ich mit dem Bibliothekar ziemlich lange nach solchen Büchern gesucht und nichts passendes gefunden, bis er schließlich meinte, ich müsse wohl selber eins schreiben. Das hat sich eingebrannt.“
Zwei Jahre musste der Gedanke reifen und das medizinische Staatsexamen bestanden werden, dann packte sie das Projekt Kinderbuch an. In verschiedenen Netzwerken hat sie Aufrufe gestartet und in ganz Deutschland Interviewpartner: „Da war gefühlt alles an Diversität dabei: eine Mutter und ihr Kind mit Trisomie 21, ein non-binäres Elternteil mit einem non-binären Transmädchen, ein lesbisches Paar mit zwei Kindern, die in einem sehr kleinen Dorf in Bayern leben. Kinder, die bei ihrer Oma aufwuchsen. Jüdische, christliche und muslimische Menschen. Ich habe mit reichen und prekären Menschen gesprochen, welchen, die aus dem Ausland kommen oder noch nie im Ausland waren. Da sind ganz viele wertvolle Attribute zusammengeflossen und später anonymisiert in meine Charaktere eingeflossen.“
Ohne Zeigefinger oder Magie
Realistisch sollte die Geschichte sein, auf gar keinen Fall eine magische, wie es sie bereits mannigfach auf dem Markt gibt. Kein Aufklärungs- oder Sachbuch, sondern eine Geschichte, in der Empathie für die Protagonist:innen entwickelt werden kann. Diversität und Queerness sollten sichtbar sein, ohne die Leserschaft zwischen 8 und 12 zu überfordern. „Das ist eine starke Entdeckerphase, wo die ersten Ablösungsprozesse stattfinden, sie schon viel Autonomie haben und was eigenes machen.“ So auch die sechs porträtierten Kinder im Buch „Kiezkinder - wir mischen mit!“. Gemeinsam engagieren sie sich für eine Fabrikbrache als Bauspielplatz. Man erlebt, wie unterschiedlich sie zu Hause leben, was sie fühlen und über andere denken. Es werden Eigenheiten und Andersartigkeiten gezeigt, zugleich kann man jede Familie wertschätzen. Die Geschichte bietet zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten, so dass alle Betroffenen sich wiederfinden. Auch das war Milena Bartels wichtig, möglichst ohne in Klischeefallen zu treten. Neben Toleranz und Teilhabe geht es vor allem um Freundschaft und darum, zu sich zu stehen.
Ungefähr zehn Monate hat sie auf den ersten Textentwurf verwendet, die feministisch arbeitende Illustratorin Roya Soraya kennengelernt, ihr Exposé bei Kinderbuchverlagen eingereicht, ein paar Absagen kassiert und dann den von Frauen geführten, politisch aktiven Orlanda-Verlag in Berlin gefunden. Anschließend hat sie sich, mittlerweile hochschwanger, mühsam in Vertrags- und Filmrecht reingekniet. „An dem Abend, als schließlich der Vertrag unterschrieben war, ist lustigerweise meine Fruchtblase geplatzt. Dann war ich reif für das nächste Projekt“, lacht sie herzhaft. Inzwischen arbeitet sie wieder als Ärztin am Universitätsklinikum Leipzig.
Nachdem das gedruckte Buch im Handel zu haben ist und Milena Bartels bereits zu Lesungen in Deutschen und Schweizer Städten eingeladen war, wie fühlt es sich an? „Total aufregend, wirklich schön. Es ist etwas ganz anderes als in der Klinik, so kreativ, selbstständig und auch politisch zu arbeiten. Dass alles so geklappt hat, macht mich sehr stolz. Viele Leute schreiben tolle Sachen und kriegen sie nicht veröffentlicht. In Berlin wird es demnächst sogar auf eine Theaterbühne kommen.“ Es dürfte sie mit Freude erfüllen, dass ihr Buch auch in ihrem Leipziger Osten in einem quirligen Kiez-Café ausliegt.
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