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Mitarbeitende des Institut für Ethnologie der Universität Leipzig haben die Diskussionsreihe "Step back and read: Anthropologische Perspektiven auf Israel/Palästina" ins Leben gerufen. Hintergrund war der Wunsch Studierender, die Besetzung und spätere Räumung des Audimax der Universität am 7. Mai dieses Jahres aufzuarbeiten. Die erste Diskussionsrunde fand am 5. Juni statt, zwei weitere folgten. Forscherin Lucilla Lepratti vom Institut für Ethnologie gehört zu den Initiator:innen der Reihe. Im Interview berichtet sie über Ziele, Zielgruppen und Auswirkungen des Nahost-Konflikts auf die Lehre.

Wie ist die Idee zur Diskussionsreihe Step back and read: anthropologische Perspektiven auf Israel/Palästina entstanden? 

Die Diskussionreihe wurde vom Institut für Ethnologie ins Leben gerufen, nachdem Studierende in den Seminaren das Bedürfnis geäußert hatten, die Besetzung des Audimax und die Räumung dessen aufzuarbeiten. Am 7. Mai 2024 besetzten Studierende das Audimax um ihren Forderungen an die Universität Leipzig Nachdruck zu verleihen. (Anm. d. Red.: Das Statement der Hochschulleitung zu den Ereignissen am 7. Mai finden Sie hier.) Der Hintergrund der Aktion war die immanente Bodenoffensive auf Rafah, dem Ort, wo Tausende Palästinenser:innen Zuflucht vor den Luftangriffen des israelischen Militärs gesucht hatten. Meine Kollegin Lara Krause-Alzaidi hat mit einem Masterstudenten des Instituts für Ethnologie über die Proteste der Initiative „Palestine Campus“ an unserer Uni gesprochen.
Gleich am Tag nach der Räumung des Audimax drückten einige Studierende Schock und Ratlosigkeit über den Umgang der Universitätsleitung mit dem Protest der Studierenden aus. Auch wenn es unter Studierenden unterschiedliche Positionen zur Art und auch zum Inhalt des Protests gab, waren die meisten überrascht über die Entscheidung des Rektorats, das Audimax unmittelbar nach der Besetzung und ohne mit den Protestteilnehmer:innen in den Dialog getreten zu sein, räumen zu lassen. Daraufhin entschieden wir uns als Institut, unseren Studierenden ein Gesprächsangebot zu machen und organisierten ein erstes Treffen. In diesem Treffen sind insbesondere die Studierenden selbst zu Wort gekommen. Viele von ihnen haben geäußert, zu wenig oder gar keine Räume zu haben, um ihre Emotionen aufzuarbeiten und über den Krieg in Palästina/Israel und dem Libanon, über die Position der Bundesregierung zu diesem Krieg und über den Umgang mit Protest zu sprechen. Die Studierenden haben ihre Unzufriedenheit, aber auch ihre Kritik und ihre Wünsche geäußert. 

Wie genau war der Ablauf der ersten Veranstaltung am 5. Juni? Wird es weitere geben?

Nach diesem ersten Treffen am 5. Juni, dieser Aussprache, fanden bisher zwei weitere Treffen statt. Die Studierenden haben unser Angebot einer Diskussionsreihe, oder eines Lesekreises, gut aufgenommen. Die Idee dabei ist nicht, ein zusätzliches Seminar anzubieten, sondern eine Gesprächsrunde zu schaffen, in der wir uns als Universitätsmitglieder auf Augenhöhe treffen und in der Studierende sowie Dozierende Verantwortung für die Gestaltung der Diskussion übernehmen. Es besteht der Wunsch, die unterschiedlichen Perspektiven auf die Thematik besser zu verstehen. Dazu haben wir Vorschläge für Lektüren zur Geschichte und Gegenwart von Palästina/Israel und auch zu Erinnerungskultur und -praxis in Deutschland gesammelt. Diese haben wir offen und kontrovers diskutiert. Die Diskussion ist unter der Prämisse gelaufen, dass es keine „schlechten“ Fragen gibt und nichts vorausgesetzt wird. Gemeinsam vertiefen wir unser Wissen und ermöglichen dadurch fundierten Austausch und Kritik. Aktuell finden keine Treffen statt. Zu Beginn der Vorlesungszeit werden wir wieder zusammenkommen und gemeinsam entscheiden, ob und wie die Reihe weitergeht. 

Welches Ziel verfolgen Sie mit der Reihe?

Viele unserer Studierenden vermissten Diskursräume und Möglichkeiten, sich auch innerhalb der Universität und nicht nur im Privaten zum Hintergrund des Krieges und zu wissenschaftlichen und politischen Debatten zu informieren. Dadurch wollen sie sich ein besseres Verständnis des historischen und politischen Kontextes verschaffen. Für manche Studierende geht es vielleicht primär darum, sich zunächst eine Meinung zu bilden, für andere eher darum, besser argumentieren zu können, oder aber eigene Vorurteile abzulegen und sich auch selbst zu hinterfragen. Die Studierenden bewegt das Unrecht und das Leid, das die Menschen in Palästina/Israel erfahren. Sie sind auch von den Ereignissen hier in Deutschland betroffen, wie der zunehmenden Polizeigewalt, die besonders palästinensische, jüdische und muslimische Demonstrant:innen trifft. Sie fürchten eine weitere Einschränkung von Diskursräumen und Grundrechten für Studierende, auch mit Hinblick auf den Aufstieg der AfD in Sachsen und die Wahlen. Es steht die Gefahr im Raum, dass das Verbot oder die Räumung studentischer Proteste unter einer zukünftigen Regierung als politische Waffe eingesetzt werden könnte und Studierende in ihren Rechten auf Meinungsfreiheit und auf Protest zunehmend beschnitten werden. Besonders internationale Studierende können die Debatte in Deutschland oft nicht nachvollziehen. Sie wundern sich darüber, wie schwierig es hier ist, die Gewalt an den Palästinenser:innen in Gaza als Genozid zu benennen, obgleich der Internationale Gerichtshof dies als plausibel bewertet. Viele Studierende möchten in Gesprächen innerhalb und außerhalb der Universität fundiertere Positionen vertreten und gegen die Tabuisierung und einseitige Darstellung antreten können. Wir glauben, dass die Hochschule das fördern sollte. Wir kommen also vor allem den Bedürfnissen unserer Studierenden nach, und es soll ein offener Prozess sein, ohne prädefinierte Ziele, außer dem, kritische und offene Lern- und Diskursräume zu erhalten.

An wen konkret richtet sich die Diskussionsreihe?

Die Reihe richtet sich insbesondere an Mitglieder des Instituts für Ethnologie, ist aber offen für alle. Von Beginn an haben daran auch Studierende und Mitarbeitende anderer Institute teilgenommen.

Welche Auswirkungen hat der Nahost-Konflikt Ihrer Ansicht nach auf die Lehre an der Universität Leipzig?

Meines Erachtens hat der Krieg aktuell zu wenig Auswirkungen auf die Lehre. Das klingt vielleicht etwas überraschend. Ich meine damit aber, dass das, was aktuell in Palästina/Israel – unter anderem mit Unterstützung der Bundesrepublik – geschieht, viel mehr Raum in unserem Alltag und in unserer Arbeit einnehmen sollte, als es das hierzulande tut. Für manche mag das Thema zu präsent sein und sie würden sich wünschen, ihre Lehre ohne Hörsaalbesetzungen, Protestcamps und Demonstrationen wie gewohnt fortführen zu können. Ich persönlich sehe es so, dass wir den Studierenden dankbar sein sollten, dass sie sich gegen Völkermord und gegen Kriegsverbrechen – für Frieden, für Menschenrechte und für die Einhaltung von internationalem Völkerrecht einsetzen. Natürlich hat Gewalt in diesem so schwer vorstellbaren Ausmaß, wie insbesondere die Bevölkerung von Gaza sie gerade erlebt, Auswirkungen auf Lehre und Forschung. Sie muss das auch haben, denn Wissenschaft und Bildung sind nicht losgelöst von den Geschehnissen in der Welt. Ich lerne sehr viel von den Studierenden, nicht nur als Forscherin, die sich für soziale Bewegungen interessiert. Diese „Rollenumkehrung“, in der wir es sind, die den Studierenden zuhören, tut uns als Dozierenden gut. 

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