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Seit April 2023 promoviert Nataliya (Natalka) Sniadanko am Institut für Slavistik der Universität Leipzig. Die mehrfach international ausgezeichnete ukrainische Schriftstellerin und Übersetzerin verbindet in Leipzig Literaturwissenschaft mit ihrem eigenen literarischem Schaffen. Dieses umfasst bisher elf Prosabände, die in elf Ländern erschienen sind, darunter neun Romane. Für ihren 2021 auf Deutsch veröffentlichten Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ wurde sie für den Mitteleuropäischen Angelus-Literaturpreis nominiert.

„Es war das Beste, was uns passieren konnte“

Die Idee zu promovieren begleitet Natalka Sniadanko schon seit ihrem Erststudium der Ukrainistik in Lwiw (Lemberg), welches sie 1995 abschloss. Zwei Dinge ereigneten sich, die ihren weiteren Weg prägen würden, wenn auch nicht sofort: „Wir waren der erste Durchgang der Ukrainistik nach der Wende. Die alten Bücher waren nicht mehr relevant, aber neue gab es noch nicht“, erinnert sie sich. Viele Uni-Professor:innen hätten nicht gewusst, was sie mit den Studierenden anfangen sollten. „Als Gastdozent engagierte die Universität für ein paar Semester den bekannten Lyriker Viktor Neborak“, so Sniadanko. „Er brachte uns die ukrainische Gegenwartslyrik und auch Prosa nahe, die es nicht in die Verlage geschafft hatten, sondern unter dem Tresen gehandelt wurden.“ „Es war das Beste, was uns passieren konnte. Ich sah nicht nur spannende Werke, sondern auch, wie gut man literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft verbinden kann.“ Zunächst jedoch ging sie nach Deutschland und studierte in Freiburg im Breisgau Polonistik und Romanistik an der Albert-Ludwigs-Universität.

Neue Perspektiven auf altbekannte Größe

Zurück in Lwiw 1997 begann sie, literarische Werke zu übersetzen und vertiefte diese Richtung bei einem Aufbaustudium an der Universität Warschau. „Ich glaube, es war zu dieser Zeit, als die Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova ein Buch über Olha Kobalanska schrieb - eine der bekanntesten ukrainischen Schriftstellerinnen“, so Sniadanko. In Deutschland kenne Kobalanska kaum jemand, dabei habe sie auch auf Deutsch geschrieben. „Die neue Analyse hob sie heraus aus dem sowjetischen Literaturkanon, in dem sie nur als volkstümliche Bauernschriftstellerin Platz hatte – und ließ sie in einem ganz anderen Blickwinkel erscheinen“, sagt sie. Sniadanko betrachtete das Werk Kobalanskas anhand der verschiedenen literaturtheoretischen Theorien des 20. Jahrhunderts. „Ich habe es mehrfach gelesen, weil es mich so faszinierte“, so Sniadanko.

Ukrainische Literatur ist europäische Literatur

So überrascht es nicht, dass Olha Kobalanska das Promotionsthema von Natalka Sniadanko sein wird. In ihrer Dissertation wird sie Kobalanska mit deren deutscher Lieblingsschriftstellerin vergleichen – der im 19. Jahrhundert viel gelesenen Romanautorin Eugenie Marlitt. „Mich interessiert zum Beispiel die weltanschauliche Ansicht, die in ihren Werken zum Ausdruck kommt“, so Sniadanko.

Eine Sache ist ihr besonders wichtig: „Ich will zeigen, dass sich die ukrainische Literatur tatsächlich im europäischen Raum entwickelte, parallel zu jenen Strömungen, die wir aus anderen Ländern kennen – das soll heißen, bevor sie durch die sowjetische Periode zum Schweigen gebracht wurde.“ Auch zur feministischen Perspektive auf die Werke von Ukrainerinnen gebe es noch nicht so viele Veröffentlichungen, so Sniadanko.

Eigenes literarisches Schaffen

Ihre eigenen literarischen Werke werden seit 2001 publiziert. Im gleichen Jahr bekam sie das Stipendium „Gaude Polonia“ in Warschau. Weitere Stipendien in Österreich, Deutschland, Ungarn und Polen folgten. Parallel übersetzte sie weiter, schrieb erst für ukrainische Zeitungen und Zeitschriften, später als freie Autorin für die internationale Presse, unter anderem für die Deutsche Welle, die New York Times und den Guardian. Seit 2010 ist sie freie Autorin, Publizistin und Übersetzerin. 2018 wurde sie Mitglied im PEN-Club der Ukraine und 2022 Korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste.

Bisher sind elf Romane von Natalka Sniadanko erschienen, die insgesamt in elf Ländern veröffentlicht wurden. Über 80 Autor:innen hat sie aus dem Polnischen und Deutschen ins Ukrainische übersetzt.

Nachdem der Krieg in der Ukraine ausgebrochen war, offerierte ihr das Literaturarchiv in Marbach ein Stipendium vor Ort, welches sie gern annahm. „Ich konnte da schon einiges zu Olha Kobalanska und anderen ukrainischen Schriftstellern finden, was in den Nachlässen anderer Autoren zu finden war“, sagt sie.

 

  • Prof. Dr. Anna Artwinska: Leipzig bietet gutes Umfeld für solche Forschungsvorhaben
    Prof. Anna Artwinska vom Institut für Slavistik, freut sich, dass Natalka Sniadanko nun übergangslos von Marbach nach Leipzig wechseln konnte, um hier ihren lang gehegten Promotionswunsch zu verwirklichen: „Ich glaube, dass Leipzig ein gutes Umfeld für ein solches Vorhaben bietet. Wir haben das Zentrum für Gender Studies und das Literaturinstitut, hier gibt es eine Tradition, wo sich die Literaturwissenschaft und das kreative Schreiben miteinander verbinden.“ Außerdem leiste die Dissertation einen „enormen Beitrag, um zu zeigen, dass die ukrainische Literatur auch außerhalb des russischen und sowjetischen Kontexts eine Daseinsberechtigung hat.“ Sie sei ein Gewinn für die Ukrainistik in Leipzig. Zudem gefalle ihr, dass Natalka Sniadanko eine Autorin der Moderne aufgreife und komparatistisch lese. 

 

„Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte“

Natalka Sniadanko ist bereits vielfach ausgezeichnet worden. Die neueste Auszeichnung ist die Nominierung ihres Romans „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ für den Angelus-Preis. Dieser wird von der Stadt Breslau (Wroclaw) und der Tageszeitung "Rzeczpospolita" für das beste Buch des Jahres gestiftet, welches in Polen erschienen ist. Der Roman wurde 2017 in der Ukraine, 2021 in Österreich und 2022 in Polen veröffentlicht.

Der geschichtliche Hintergrund des Buchs sei historisch belegt, aber die Familiengeschichte Fiktion, erläutert Sniadanko. Diese drehe sich um die historische Persönlichkeit des Wilhelm von Habsburg. „Er setzte sich für eine unabhängige Ukraine ein, wenn auch nicht ganz uneigennützig. Er war ein Idealist und ein Träumer, der zunächst viel Unterstützung fand und in den 1920er Jahren sehr beliebt war. Aber er endete mittellos und eigentlich auch staatenlos in einem Kiewer Gefängnis.“ Um seinen Tod rankten sich viele Legenden. „In meinem Buch überlebt er jedoch und gründet eine Familie, die Vieles übersteht.“

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