Sie schreiben, dass die psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben. Worin sehen Sie die Hauptursachen dafür?
Julian Schmitz: Auch wenn die Pandemie vorbei ist, klingen die psychischen und sozialen Folgen für Kinder und Jugendliche noch stark nach. Dazu haben wir auch letztes Jahr eine internationale Metastudie veröffentlicht. Viele Kinder und Jugendliche wurden durch die Pandemie besonders psychisch belastet, wichtige Kompetenzen haben sich nicht so entwickelt, wie es für ein psychisch gesundes Aufwachsen notwendig ist, zum Beispiel die sozialen Kontakte von Kindern und Jugendlichen. Zusätzlich sind durch Distanzunterricht Lernlücken entstanden, die bis heute das schulische Lernen erschweren. Hinzu kommen Sorgen um globale Krisen wie Kriegen und den Klimawandel, die durch soziale Medien immer stärker in das Leben von Kindern und Jugendlichen eindringen.
Die Prävention und die Versorgung von psychischen Problemen in Kindheit und Jugend werden Ihrer Ansicht nach immer noch vernachlässigt. Was muss passieren?
Judith Bauch: Die aktuellen Ergebnisse des BiPsy-Monitors machen zwei Dinge deutlich. Auf der einen Seite zeigen die Daten der bundesweiten Schulleitungsbefragung in 13 Bundesländern, dass viele Schulen nach wie vor nicht über ausreichende niedrigschwellige präventive Angebote verfügen wie Beratungslehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen oder Schulpsycholog:innen. Dabei sind diese schulischen Angebote besonders wichtig, um psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen. Schule bietet den Vorteil, dass darüber alle Kinder und Jugendliche erreicht werden können. Zudem sind Hilfen für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen, die professionelle Hilfe außerhalb der Schule brauchen, oft nicht verfügbar.
Kristin Rodney-Wolf: Unsere bundesweite Psychotherapeutenbefragung zeigt durchschnittliche Wartezeiten von mehr als sechs Monaten auf einen Therapieplatz. Darüber hinaus erhält nur etwa die Hälfte der Patient:innen, die Bedarf an einer Psychotherapie hätte, nach einem Erstgespräch auch einen Therapieplatz in einer Praxis, die andere Hälfte muss weiter nach Behandlung suchen. Hinzu kommt, dass der Entscheidung, Hilfe in Anspruch zu nehmen, oft ein längerer Leidensweg vorangeht, indem erstmal ein Problembewusstsein geschaffen und Barrieren wie Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen und Psychotherapie sowie Angst vor Stigmatisierung abgebaut werden müssen.
Diese Zeitspanne vom Wahrnehmen des Hilfebedarfs über die Hilfesuche hin zum tatsächlichen Start der Psychotherapie ist im Verhältnis zur Lebensspanne eines Kindes oder einer/eines Jugendlichen eine enorm lange Zeit, in der sich Symptomatik und Beeinträchtigungen verfestigen und ausweiten können, so dass beispielsweise wichtige Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt und sozialer Anschluss oder Schulbesuch gefährdet sein können. Diese langen Wartezeiten sowie Schwierigkeiten beim Finden eines Therapieplatzes sind auf einen Mangel an Psychotherapeut:innen mit einer Zulassung zurückzuführen, über die gesetzliche Krankenversicherung abzurechnen. Neben einem Ausbau von Versorgungskapazitäten ist es auch essenziell, Angebote zur Prävention, Entstigmatisierung und Früherkennung psychischer Erkrankungen - beispielsweise an Schulen - auszubauen.
Es gibt auch für Erwachsene viel zu wenig Psychotherapie-Plätze. Welchen Ausweg gibt es aus diesem Dilemma?
Julian Schmitz: Wir wissen aus Studien zuverlässig, dass etwa drei Viertel aller psychischen Erkrankungen bis ins junge Erwachsenenalter entstehen. Wenn es uns hier gelingt, psychische Störungen und starke Belastungen zu reduzieren, dann haben wir auch mehr psychisch gesunde Erwachsene.
Kristin Rodney-Wolf: Die Anzahl an Psychotherapieplätzen für gesetzlich Versicherte wird im Erwachsenen- ebenso wie im Kinder- und Jugendbereich über das in der Bedarfsplanung festgelegte Verhältnis von Behandler:innen zur Bevölkerung bestimmt. Auch bei Erwachsenen deuten lange Wartezeiten und Schwierigkeiten im Finden eines Therapieplatzes darauf hin, dass es schlichtweg zu wenig Kassensitze für approbierte Psychotherapeut:innen gibt.
Kommentare
Keine Kommentare gefunden!