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Die psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Die Ursachen sind vielfältig: Corona-Pandemie, Klimakrise, Krieg, Armut oder Leistungsdruck und Lehrkräftemangel in der Schule. Gleichzeitig gibt es zu wenig Unterstützungs- und Beratungsangebote. Das im Januar 2023 gestartete Kooperationsprojekt „Monitor Bildung und psychische Gesundheit (BiPsy-Monitor)“ der Universität Leipzig, der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und der Robert Bosch Stiftung GmbH befasst sich mit dieser Thematik. Gerade haben Prof. Dr. Julian Schmitz und sein Team erste Ergebnisse veröffentlicht und berichten im Interview darüber.

Sie schreiben, dass die psychosozialen Belastungen von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben. Worin sehen Sie die Hauptursachen dafür?

Julian Schmitz: Auch wenn die Pandemie vorbei ist, klingen die psychischen und sozialen Folgen für Kinder und Jugendliche noch stark nach. Dazu haben wir auch letztes Jahr eine internationale Metastudie veröffentlicht. Viele Kinder und Jugendliche wurden durch die Pandemie besonders psychisch belastet, wichtige Kompetenzen haben sich nicht so entwickelt, wie es für ein psychisch gesundes Aufwachsen notwendig ist, zum Beispiel die sozialen Kontakte von Kindern und Jugendlichen. Zusätzlich sind durch Distanzunterricht Lernlücken entstanden, die bis heute das schulische Lernen erschweren. Hinzu kommen Sorgen um globale Krisen wie Kriegen und den Klimawandel, die durch soziale Medien immer stärker in das Leben von Kindern und Jugendlichen eindringen. 

Die Prävention und die Versorgung von psychischen Problemen in Kindheit und Jugend werden Ihrer Ansicht nach immer noch vernachlässigt. Was muss passieren?

Judith Bauch: Die aktuellen Ergebnisse des BiPsy-Monitors machen zwei Dinge deutlich. Auf der einen Seite zeigen die Daten der bundesweiten Schulleitungsbefragung in 13 Bundesländern, dass viele Schulen nach wie vor nicht über ausreichende niedrigschwellige präventive Angebote verfügen wie Beratungslehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen oder Schulpsycholog:innen. Dabei sind diese schulischen Angebote besonders wichtig, um psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen. Schule bietet den Vorteil, dass darüber alle Kinder und Jugendliche erreicht werden können. Zudem sind Hilfen für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen, die professionelle Hilfe außerhalb der Schule brauchen, oft nicht verfügbar. 

Kristin Rodney-Wolf: Unsere bundesweite Psychotherapeutenbefragung zeigt durchschnittliche Wartezeiten von mehr als sechs Monaten auf einen Therapieplatz. Darüber hinaus erhält nur etwa die Hälfte der Patient:innen, die Bedarf an einer Psychotherapie hätte, nach einem Erstgespräch auch einen Therapieplatz in einer Praxis, die andere Hälfte muss weiter nach Behandlung suchen. Hinzu kommt, dass der Entscheidung, Hilfe in Anspruch zu nehmen, oft ein längerer Leidensweg vorangeht, indem erstmal ein Problembewusstsein geschaffen und Barrieren wie Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen und Psychotherapie sowie Angst vor Stigmatisierung abgebaut werden müssen. 

Diese Zeitspanne vom Wahrnehmen des Hilfebedarfs über die Hilfesuche hin zum tatsächlichen Start der Psychotherapie ist im Verhältnis zur Lebensspanne eines Kindes oder einer/eines Jugendlichen eine enorm lange Zeit, in der sich Symptomatik und Beeinträchtigungen verfestigen und ausweiten können, so dass beispielsweise wichtige Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt und sozialer Anschluss oder Schulbesuch gefährdet sein können. Diese langen Wartezeiten sowie Schwierigkeiten beim Finden eines Therapieplatzes sind auf einen Mangel an Psychotherapeut:innen mit einer Zulassung zurückzuführen, über die gesetzliche Krankenversicherung abzurechnen. Neben einem Ausbau von Versorgungskapazitäten ist es auch essenziell, Angebote zur Prävention, Entstigmatisierung und Früherkennung psychischer Erkrankungen - beispielsweise an Schulen - auszubauen.

Es gibt auch für Erwachsene viel zu wenig Psychotherapie-Plätze. Welchen Ausweg gibt es aus diesem Dilemma?

Julian Schmitz: Wir wissen aus Studien zuverlässig, dass etwa drei Viertel aller psychischen Erkrankungen bis ins junge Erwachsenenalter entstehen. Wenn es uns hier gelingt, psychische Störungen und starke Belastungen zu reduzieren, dann haben wir auch mehr psychisch gesunde Erwachsene.

Kristin Rodney-Wolf: Die Anzahl an Psychotherapieplätzen für gesetzlich Versicherte wird im Erwachsenen- ebenso wie im Kinder- und Jugendbereich über das in der Bedarfsplanung festgelegte Verhältnis von Behandler:innen zur Bevölkerung bestimmt. Auch bei Erwachsenen deuten lange Wartezeiten und Schwierigkeiten im Finden eines Therapieplatzes darauf hin, dass es schlichtweg zu wenig Kassensitze für approbierte Psychotherapeut:innen gibt. 

Dass psychosoziale Hilfe an Schulen kein „Nice to have“ ist, sondern eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems beinhaltet, setzt sich immer mehr durch.

Judith Bauch, wissenschaftliche Mitarbeiterin

An deutschen Schulen gibt es laut Ihrer Befragung trotz des steigenden Bedarfs zu wenig Schulsozialarbeiter:innen und Schulpsycholog:innen. Woran liegt das?

Judith Bauch: Insgesamt hat sich die Ausstattung von Schulen beispielsweise mit Schulsozialarbeit oder schulpsychologischen Angeboten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland deutlich verbessert, auch wenn wir im Vergleich mit vielen anderen wohlhabenden Ländern wie zum Beispiel Dänemark oder der Schweiz noch weit zurückliegen. Dass psychosoziale Hilfe an Schulen kein „Nice to have“ ist, sondern eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems beinhaltet, setzt sich immer mehr durch, wenn auch nicht so schnell wie es notwendig wäre. Zudem kosten diese Stellen zusätzlich und dauerhaft Geld. 

Sind Lehrkräfte zu wenig geschult, um frühzeitig psychische Probleme der Schüler:innen zu erkennen?

Julian Schmitz: Aktuellen Daten des Deutschen Schulbarometers, die wir kürzlich gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung veröffentlich haben, zeigen, dass Lehrkräfte oft die erste Ansprechperson bei psychischen Problem sind. Gleichzeitig können Lehrkräfte häufig nicht ausreichend helfen, da ihnen die Zeit oder die Kompetenzen fehlen. Das kann durch Schulungen verbessert werden, aber es braucht dazu vor allem deutlich mehr Hilfsangebote, die dann Folgen. 

In Ihrer BiPsy-Studie schreiben Sie, dass Schulleitungen nicht-schulische Belastungsfaktoren, unter anderem übermäßiger Medienkonsum, Konflikte mit Gleichaltrigen und familiäre Konflikte eher als Ursache für psychische Probleme von Schüler:innen ansehen als schulische wie beispielsweise Leistungsdruck. Was stimmt aus Ihrer Sicht?

Kristin Rodney-Wolf: Auch Schulleitungen messen schulischen Faktoren eine wichtige Rolle bei, aber es ist ein Stückweit normal, dass Faktoren außerhalb des eigenen Bereichs als einflussreicher bewertet werden. In der Gesamtschau der wissenschaftlichen Ergebnisse kann man sagen, dass sowohl schulische als auch außerschulische Faktoren Kinder und Jugendliche aktuell belasten.

Planen Sie eine wissenschaftliche Veröffentlichung zu den Zwischenergebnissen Ihrer Studie? Warum werden bei einem solchen Monitoring Zwischenergebnisse veröffentlicht, nicht Endergebnisse? 

Julian Schmitz:Wir planen auch eine wissenschaftliche Publikation der Zwischenergebnisse im Laufe 2025. Da es sich um ein Monitoring handelt, werden die Ergebnisse allerdings bereits vorher über Zwischenberichte veröffentlicht, wie auch bei anderen Monitorings üblich. Hier ist die Aktualität der Daten zentral und der langwierige wissenschaftliche Publikationsprozess kann nicht abgewartet werden. Ziel des Monitorings ist die möglichst zeitnahe Abbildung der psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Durch die hohe Aktualität der Daten ermöglicht es Entscheidungsträgern, aufgrund der Daten Maßnahmen zu ergreifen, welche beispielsweise die Psychotherapeutische Versorgung verbessern, zum Beispiel Sonderzulassungen. Würde man den kompletten wissenschaftlichen Prozess abwarten, der auch mehrere Jahre bis zur Publikation in Fachzeitschriften bedeuten kann, dann verlören die Daten ihre Aktualität und sind für Entscheidungen deutlicher weniger relevant.

Warum veröffentlichen Sie und Ihre Kolleg:innen die ersten Ergebnisse der Studie gerade jetzt? Gibt es einen Zusammenhang mit der bevorstehenden Bundestagswahl?

Julian Schmitz: Die Ergebnisse veröffentlichen wir, da diese jetzt erstmalig fertig ausgewertet vorliegen, die Erhebungen haben 2024 stattgefunden. Einen konkreten Bezug zur Bundestagswahl gibt es nicht, auch wenn sich natürlich politische Aspekte ableiten lassen. Diese liegen aber besonders bei den Schuldaten eher auf Länderebene.

Zum BiPsy-Monitor

Im Kooperationsprojekt „Monitor Bildung und psychische Gesundheit“ (BiPsy-Monitor) wird unter anderem die Versorgung von psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen umfassend, interdisziplinär und über mehrere Jahre hinweg untersucht. Ein Schwerpunkt liegt dabei in der Untersuchung der psychosozialen Versorgung an Schulen (Schulmonitor) und der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung (Monitor Psychotherapie). Die ersten Ergebnisse des BiPsy-Monitors: Schule & Psychotherapie haben Julian Schmitz, Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, sowie die Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Judith Bauch und Kristin Rodney-Wolf vom Wilhelm-Wundt-Institut für Psychologie der Universität Leipzig vorgestellt.

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