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Für Krebs gibt es individuelle Therapien – aber wie sieht es bei der Behandlung von Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht aus? Darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Michael Stumvoll, Professor für Endokrinologie an der Universität Leipzig und Direktor der Klinik und Poliklinik für Endokrinologie, Nephrologie, Rheumatologie des Universitätsklinikums Leipzig.

Was ist eigentlich personalisierte Medizin?

„Personalisierte Medizin“ wird seit einigen Jahren als Schlagwort gehypt. Es fasst das Wunschdenken zusammen, dass in der Zukunft jeder Patient seine ganz persönliche Medizin – gemeint ist die Therapie für eine bestimmte Krankheit – erhält. Der Begriff kommt aus der Onkologie, wo man den Tumor oder die Leukämiezelle direkt untersuchen, eine genaue molekulare Analyse der Krebszellen erstellen kann und sogar das krankmachende Gen bzw. die Mutationen kennt. Damit kann man dann in mittlerweile gut etablierte und hochverzweigte Therapie-Algorithmen gehen und je nach individueller Pathologie die optimale Therapie wie Antikörper, Zytostatika oder Zelltherapie für den Patienten auswählen.

Und kommt sie auch bei Volkskrankheiten wie Diabetes, Adipositas, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Einsatz?

Für die großen Volkskrankheiten gibt es solche Ansätze nicht. Das hat zum einen damit zu tun, dass einzelne, krankheitsursächliche Gene nur selten zu finden sind. Zum anderen sehen Zulassungsstudien für neue Medikamente eine Voraussage des therapeutischen Ansprechens im Design nicht vor. Es werden alle Patienten eingeschlossen, die vom Alter, Gewicht, Krankheitsdauer, wichtigsten Kontraindikationen passen, um auf die hohe für die Zulassung (und spätere Erstattung) erforderliche Fallzahl zu kommen.

Eine Therapie wirkt nicht bei jedem und schon gar nicht gleich. Wird das berücksichtigt?

Eine a-priori Kenntnis von „Non-respondern“ würde Studien verkomplizieren und verteuern und nach Zulassung den Markt eventuell deutlich verkleinern – und ist daher gar nicht erwünscht. Wüssten wir vorab, dass ein Patient auf ein „im Mittel wirksames“ Medikament nicht oder nur unter erheblichen Nebenwirkungen anspricht, würde ein anderes gewählt. Subgruppen – und seien es nur Frauen versus Männer – werden nicht vorab definiert, sondern „post-hoc“ analysiert, mit allenfalls grober Aussagekraft. Die resultierende therapeutische Trägheit – erstmal probieren ob es hilft – erhöht die Krankheitslast (Schwere mal Dauer) und führt zu unumkehrbaren Organschäden. Andererseits, um alle denkbaren Subgruppen in Endpunktstudien (Herzinfarkt, Tod) abzubilden, bräuchte man astronomische Fallzahlen.

Sind verfeinerte Studien bei Volkskrankheiten also „Science fiction“?

Die echte Science kann inzwischen schon sehr viel und auch zu angepassten Studiendesigns verhelfen. Weltweit entstehen große Datensätze zu Krankheitsrisiko und -verläufen. Die Pharmaindustrie unterstützt bei neu zugelassenen Medikamenten Beobachtungsstudien, aus denen sich mit wenig zusätzlicher Mühe erste Informationen zu Ansprechraten gewinnen ließen, das Gleiche gilt auch für Nebenwirkungen. Aus sogenannten Biomarkern, also individuellen Gen-, Serum-, Stuhl-, Bilddaten ließen sich A-priori-Subgruppen modellieren, die zunächst hypothetisch besser von einem bestimmten Medikament profitieren als andere. Analog könnte man ein Monitoring für den klinischen Verlauf so aufbauen, dass man für Erkenntniszuwachs auf ganz harte Endpunkte verzichten kann. Machbare Pilotstudien in entsprechenden Subgruppen würden entstehen. Nur wenn Pharma und Academia diese Ansätze gemeinsam verfolgen und auf die Zulassungsebene bringen, kann personalisierte Medizin auch bei der Bekämpfung von Volkskrankheiten gelingen.

Dieses Interview erschien zuerst am 21. September 2023 in ZEIT für X.

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