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Seit 2002 leitet der Sozialpsychologe Prof. Dr. Oliver Decker eine Studienreihe, die die politischen Einstellungen und die Neigung zu autoritären Tendenzen in Deutschland erfasst. Am 13. November ist die zwölfte Befragungswelle unter dem Titel „Vereint im Ressentiment“ als Leipziger Autoritarismus Studie 2024 erschienen. Im Gespräch erklärt Decker, welche Ergebnisse in diesem Jahr zentral sind und wie die Studie methodisch weiterentwickelt wird.

Herr Decker, welche Ergebnisse der Leipziger Autoritarismus Studie 2024 halten Sie für zentral?

Drei Erkenntnisse sind für mich zentral. Da fällt zuerst die Zunahme einer manifesten Ausländerfeindlichkeit ins Auge, die nicht nur in Ostdeutschland angestiegen ist, sondern auch im Westen. Seit Beginn der Studienreihe vor über 20 Jahren hatte die Ausländerfeindlichkeit in Westdeutschland konstant abgenommen. Wenn man sich aktuelle politische Entwicklungen anschaut, darf dieses Ergebnis aber nicht überraschen. Die Ausländerfeindlichkeit und die Ablehnung von Migration sind zu einem zentralen Element der politischen Auseinandersetzung geworden. Die Ablehnung von Migranten wird von rechtsautoritären Parteien befördert, aber demokratische Parteien greifen dieses Motiv auch auf und bedienen es. 

Zweitens sind auch die antisemitischen Einstellungen im Westen angestiegen. Auf den ersten Blick ist dieser leichte Anstieg nicht beängstigend, aber er markiert eine Trendumkehr: Bisher sank die Zustimmung kontinuierlich. Und ich sehe einen Zusammenhang zu den antisemitischen Straftaten, die sich im letzten Jahr verdoppelt haben. Sich antisemitisch zu äußern wurde bisher stark sanktioniert. Unsere Ergebnisse könnten darauf hindeuten, dass Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden wieder einfacher geäußert werden können.

Und drittens weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die Demokratie unter Druck geraten ist. Nur noch 90 Prozent der Befragten sind mit der Idee der Demokratie zufrieden. Diese Zahl mag vielleicht hoch klingen, ist aber der niedrigste Wert, den wir seit 2014 gemessen haben. Die Zufriedenheit mit dem Alltagserleben der Demokratie ist vor allem in Ostdeutschland stark gesunken, nur noch 30 Prozent sind mit der Staatsform, wie sie in Deutschland praktiziert wird, zufrieden. Auch in Westdeutschland liegt der Wert mit 46 Prozent sehr niedrig. 

Sie machen die Studie seit 2002. Wie reagieren Sie in Ihrer Forschung auf die Veränderungen der politischen Stimmungen und wie entwickeln Sie die Methodik weiter?

Wir haben Anfang der Nullerjahre unter dem Eindruck der 1990er und der massiven Gewalt gegen Migranten und der rechtsextremen Mobilisierung begonnen. Damals haben wir einen Fragebogen zu rechtsextremen Einstellungen entwickelt, der verschiedene Dimensionen zu Ethnozentrismus und Neo-NS-Ideologien umfasst. Wir wollten also erfassen, wie weit der Wunsch nach einem überlegenen, ethnisch homogenen Nationalstaat unter den Befragten verbreitet war. Im Zeitraum von fast einem Vierteljahrhundert verändert sich die politische Kultur naturgemäß. Daher reagieren wir in jeder Untersuchung auf aktuelle Entwicklungen. In diesem Jahr haben wir unter dem Eindruck des Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 und der daraus resultierenden Folgen den Antisemitismus stärker in den Fokus gerückt. Wir hatten die Vermutung, dass wir die Verbreitung dieses Vorurteils in der Bevölkerung unterschätzt haben. Das gilt auch für politische Bewegungen, die nicht für rechte Ideologien eintreten. 

In diesem Jahr wollten wir antisemitische Ressentiments erfassen, die auch in linken Kreisen zustimmungsfähig sind.

Prof. Dr. Oliver Decker

Für die Studie werden alle zwei Jahre etwa 2500 Menschen in ganz Deutschland befragt. Dafür suchen Interviewer:innen die Befragten zu Hause auf und bitten sie, Fragebögen zur politischen Einstellung auszufüllen. Die Studienteilnehmer:innen füllen die Bögen selbst aus und geben sie anschließend zurück. In dem Fragebogen werden sie gebeten, eine Reihe von Aussagen auf einer fünfstufigen Skala zu bewerten. Wie formulieren Sie die Aussagen dafür?

Zu Beginn diskutieren wir in unserer Forschungsgruppe, was wir in der Studie untersuchen möchten. In diesem Jahr wollten wir antisemitische Ressentiments erfassen, die auch in linken Kreisen zustimmungsfähig sind. Danach entwerfen wir sogenannte Items, also Aussagen, die diese Vorurteile abbilden. Diese werden dann in Pretests, also Studien, die der eigentlichen Untersuchung vorrausgehen, getestet. Dafür wurden 4200 Leute online befragt. So haben wir in diesem Jahr zwei neue Dimensionen des Antisemitismus abgebildet, den postkolonialen Antisemitismus und den antisemitischen Antizionismus.

Was zeichnet diese Formen des Antisemitismus aus?

Diese Formen des Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei verschiedenen politischen Milieus Anklang finden. Um das zu erklären, möchte ich kurz auf den sogenannten Historikerstreit eingehen, der Mitte der 1980er in Deutschland geführt wurde. Es ging dabei um die Frage, ob Verbrechen der NS-Zeit einzigartig waren oder nicht. Oder ob die Konzentrationslager nicht etwa eine Reaktion auf das Gulag-System in der Sowjetunion gewesen seien. Die Shoah, die Ermordung der europäischen Juden durch Deutsche oder in deutschem Namen, sei demnach nur eine Reaktion auf etwas gewesen, was bereits im Gange war. In den 1980er Jahren wurde dieser These in der liberalen Öffentlichkeit breit widersprochen, es gab deutlichen Widerstand gegen diese, den Holocaust relativierende These. Sie hatte zunächst scheinbar keinen Bestand. 

Heute kann der postkoloniale Antisemitismus als Ausfluss einer in den postcolonial studies vertretenen Sichtweise gelten. Sie deutet die europäischen Kolonialverbrechen als Ideengeber für den Nationalsozialismus und Israel selbst als ein koloniales Siedlungsprojekt. Das könnte man fast als Historikerstreit 2.0 bezeichnen – wenn es denn Protest in der liberalen Öffentlichkeit gäbe. Denn auch hier wird die Singularität der Shoah bestritten. Und auch hier sehen wir eine Form von Schuldabwehr, die wir mit dem sogenannten Schuldabwehrantisemitismus bereits länger erfassen. 

Durch den postkolonialen Antisemitismus kann die Ablehnung von Jüdinnen und Juden sogar mit dem Wunsch nach Gerechtigkeit begründet werden. Dabei wird aber ausgeblendet, unter welchen Umständen Israel gegründet worden ist. Zudem bedient man sich bei der Delegitimierung Israels des uralten antisemitischen Stereotyps des Juden als „fremd“ – obwohl sie immer in dem Gebiet gelebt haben. Heute kann man auf linken Demonstrationen in Deutschland Reden über die „sogenannte jüdische Heimstätte“ hören – die Enkel und Urenkel der Tätergeneration legen ihre Skrupel ab und empfinden sich sogar als Kämpfer gegen Unrecht.

Antisemitismus wird den sogenannten antimodernen Ressentiments zugeordnet. Welche Funktion bedienen diese?

Wenn wir von antimodernen Ressentiments sprechen, greifen wir Analysen von Fritz Stern und Shulamit Volkov auf. Stern sprach bei sehr vielen der Gruppen, die den Nationalsozialismus vorbereitet haben, von antimodernen Bewegungen. Diese wurden durch eine Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nie gab, geeint. Sie verspürten Wut auf die, die als Repräsentanten einer modernen Gesellschaft wahrgenommen wurden. Und Volkov zeigte, dass es für diese Milieus zwei Gruppen waren, die den meisten Hass auf sich zogen: Juden und Frauen. Denn sie nahmen die bürgerliche Gesellschaft beim Wort und bestanden darauf, dass das Gleichheitsversprechen eingelöst werden sollte. 

Auf diese Emanzipationsbestreben reagieren andere Teile der Gesellschaft mit Wut. Denn die Freiheit, die moderne Gesellschaften behaupten, ist für viele Menschen auch eine große Herausforderung, sie geht auch mit Freigesetztheit oder Entgrenzung einher. Darüber hinaus fallen auch in ihrem Leben Anspruch und Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft auseinander. Wer aber diese Lücke akzeptiert und sich den Regeln unterwirft, für den ist der Wunsch der Anderen eine Provokation. So kann sich die Sehnsucht nach dem „Zurück“ leicht an denen entzünden, die eine Sehnsucht nach „Vorne“ verspüren. 

Heute richtet sich diese Wut nicht nur gegen Frauen und Juden, sondern auch gegen andere. Um den Philosophen Bernhard Waldenfels zu zitieren: Die Wut geht auch gegen die, die kommen und bleiben. Also gegen jene, die als fremd wahrgenommen werden und die scheinbar die bestehende Ordnung in Frage stellen: Ausländer, Muslime, Sinti und Roma oder Transpersonen. Auch diese Gruppen können im Übrigen selbst Träger von Vorurteilen sein, das schließt sich nicht aus. Aber sie sind eben primäre Objekte des Hasses, und das erfassen wir mit unserer Studie in den Kategorien der antimodernen Ressentiments. 

Verschwörungsdenken und Antisemitismus sind wie eine Art „dunkle Ressource“.

Prof. Dr. Oliver Decker

Warum haben Sie in diesem Jahr Antiamerikanismus und Antikapitalismus erhoben?

Der Antiamerikanismus ist Teil der europäischen DNA. Die alte Welt hat immer abwertend auf den neuen Kontinent geblickt. Auch unsere Untersuchung zeigt, dass Antiamerikanismus weit verbreitet ist. Bei einem Drittel der Befragten sind antiamerikanische Aussagen konsensfähig, ein weiteres Drittel ist dafür zumindest offen. 

In der Ablehnung der USA können die komplexen Herausforderungen der Welt personifiziert werden. Ein Ort, eine Person oder eine Gruppe werden verantwortlich gemacht, damit werden die Verhältnisse scheinbar leichter verständlich. Es gibt große Vorbehalte beispielweise gegen US-amerikanische „Spekulanten“, welche die Marktwirtschaft zu zerstören scheinen. 

Ähnlich verhält es sich mit dem Antikapitalismus, der übrigens kein Erkennungsmerkmal allein linker Bewegungen ist. Antikapitalistische Einstellungen gibt es auch in rechtsautoritären, konservativen oder antisemitischen Milieus. Das zeigen auch unsere Zahlen. Zwei Drittel der Bevölkerung zeigen eine antikapitalistische Haltung. Auch hierin kann sich die Sehnsucht nach nicht-widersprüchlichen Verhältnissen spiegeln. 

Bieten Esoterik und Verschwörungsglaube Abhilfe von der Verdrossenheit mit den aktuellen politischen Herausforderungen?

Wir haben Verschwörungsmentalität erstmals 2012 gemessen, damals war sie sogar weiter verbreitet als während der Covid19-Pandemie. Verschwörungsdenken und Antisemitismus sind wie eine Art „dunkle Ressource“. Das heißt, sie wird genutzt, um das Gefühl von Kontrolle wieder herzustellen in Momenten der Unsicherheit. Aberglaube gibt Menschen das Gefühl, benennen zu können, woher genau eine Bedrohung kommt, auch wenn die Wirklichkeit viel komplexer ist. Statt der gesellschaftlichen Verhältnisse kann die Schuld einzelnen Personen angelastet werden. 

Bei Esoterik ist das ähnlich, die Kontrolle wird aber durch magische Handlungen vermeintlich wiederhergestellt, die höhere Mächte befriedigen sollen. Das scheint auf den ersten Blick sanft, ist aber auch eine sekundäre Form des Autoritarismus. Denn auch hier wird die Ein- und Unterordnung in eine Gruppe verlangt, Abweichung davon wird bestraft. Es können Wut und Enttäuschung entstehen, wie immer, wenn Identität über Gruppen gesucht werden muss: Differenz kann nicht ausgehalten werden. Und so ist die Aggression sehr nah, die sich gegen „andere“ richtet. 

Kommentare

  • Thomas Brück,

    Guten Tag, ohne die konkreten Fragen zu kennen, kann ich anhand der Aussagen in den hier publizierten Texten nicht beurteilen, ob ich persönlich nun von Ihnen als fremdenfeindlich eingestuft werden würde. Wenn meiner Ansicht nach die irreguläre Migration massiv eingeschränkt werden sollte und ausreisepflichtige Menschen abgeschoben werden sollten, betrachten Sie das bereits als fremdenfeindlich? Wie definieren Sie überhaupt "Fremdenfeindlichkeit" und steht Ihnen dieses Urteil überhaupt zu? Ich kenne etliche ausländische Mitmenschen und behandele sie höflich und respektvoll. Ich habe nichts dagegen, wenn sie hier in unserer Gesellschaft ihren Platz gefunden haben. Jedoch missbillige ich, wenn Leute, die hier bei uns Schutz gesucht und gefunden haben, im Gegenzug diese Aufnahmegesellschaft schädigen, missbrauchen oder gar Gewalt anwenden. Wo ist die Grenze zu Fremdenfeindlichkeit? Mit freundlichen Grüßen, Thomas Brück

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    • Pia Siemer,

      Vielen Dank für Ihre Frage. Sie können den Fragebogen den Seiten 36-37 der PDF entnehmen, er ist dort in Teilen abgedruckt. Dort sind ebenfalls Informationen zur Skalierung entahlten. Informationen zur Zuordnung der Items zu den Dimensionen finden Sie auf den Seiten 45 bis 48. Der Methode hinter der Studie widmet sich auch in Gänze das Kapitel 7. Außerdem finden Sie hier ein FAQ zur Studie: https://www.theol.uni-leipzig.de/kompetenzzentrum-fuer-rechtsextremismus-und-demokratieforschung/leipziger-autoritarismus-studie/faq-zu-den-leipziger-autoritarismus-studien

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