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Gibt es sie, die ostdeutsche Identität? Und was macht sie aus? Die Politikwissenschaftler:innen Dr. Lars Vogel, Prof. Dr. Astrid Lorenz und Prof. Dr. Rebecca Pates von der Universität Leipzig sind diesen und anderen Fragen nachgegangen und haben dazu das gerade im Springer-Verlag erschienene Buch „Ostdeutschland. Identität, Lebenswelt oder politische Erfindung?“ herausgegeben. Der Sammelband enthält Beiträge von 23 Autor:innen, die sich aus politikwissenschaftlicher, soziologischer sowie wirtschafts- und finanzwissenschaftlicher Sicht dieser vieldiskutierten Thematik nähern. Dr. Lars Vogel erklärt im Interview die Beweggründe, diesen Band herauszugeben und die aus seiner Sicht wichtigsten Ergebnisse zu Ost-West-Unterschieden und den vielfältigen ostdeutschen Identitäten.

Was hat Sie und Ihre zwei Kolleg:innen bewogen, ein Buch über die ostdeutsche Identität zu schreiben? Gab es da ein Schlüsselerlebnis?

Das Schlüsselerlebnis war die Beobachtung, dass viele sagen, Ostdeutschland spiele eigentlich keine Rolle mehr. Das haben wir in der wissenschaftlichen Diskussion und zum Teil auch im öffentlichen Diskurs beobachtet. In der wissenschaftlichen Diskussion heißt es oft, es mache einfach keinen Sinn, sich mit Ostdeutschland zu beschäftigen, relevanter seien kleinräumlichere Strukturen wie Bundesländer, Landkreise bis hin zu Städten. Wenn man ähnliche Städte in Ost wie West beobachte, würde man gar keine Unterschiede mehr finden. Auch halte die fortgesetzte Debatte um Ost-West-Unterschiede künstlich eine Trennung aufrecht. Das war ein Tenor in der Sozialwissenschaft. Auch der Autor Dirk Oschmann wird wahrgenommen als einer, der das Thema Ostdeutschland mit seinem Buch wieder stark in die öffentliche Diskussion getragen hat, allerdings mit einer interessanten Perspektive: Ostdeutschland sei eine Erfindung, von der wir uns verabschieden sollten. (Anm. d. Red.: Lesen Sie dazu auch das Interview mit Professor Oschmann im Universitätsmagazin.) Man beschäftigt sich also wieder mit dem Osten, obwohl Oschmann das eigentlich nicht mehr will. 

In der Wissenschaft ist es ähnlich. Wir wollten zeigen, dass es weiter Sinn macht, sich mit Ostdeutschland zu beschäftigen. Es gibt Dinge, die man zwischen Ost und West als Unterschiede bezeichnet, die eigentlich nicht wirklich Ost-West-Unterschiede sind. Aber dann gibt es solche, die lassen sich nicht einfach durch kleinräumlichere Analysen und einen Wechsel der Perspektive aufheben. Das nennen wir Kontexteffekte oder genuine Ost-West-Unterschiede. Zudem: Nur weil wir auf Unterschiede hinweisen, heißt es nicht zwingend, dass das etwas normativ Schlechtes ist, was eine Abgrenzung befördert. 

Zu welchen interessanten empirischen Erkenntnissen sind Sie gekommen, die Sie in das Buch aufgenommen haben? 

Das Buch hat zwei Teile. Im ersten Teil wollten wir zeigen, welche Perspektiven es auf Ostdeutschland gibt. Die eine ist Ostdeutschland als eine Identität, die abgrenzend ist, immer im Vergleich zum Westen gesehen wird und noch nicht in diesen integriert ist. 

Die zweite Perspektive wäre zu sagen: Ostdeutschland ist relevant. Das ist aber nicht im Sinne von abgrenzend gemeint, sondern Ostdeutschland kann etwas einbringen in die gesamtdeutsche Perspektive. Autor:innen wie Jana Hensel ziehen Analogien zu anderen Gruppen, wie zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund, die sagen, gerade durch diese Erfahrung des Andersseins können wir etwas einbringen. Die beiden Perspektiven sind eigentlich sehr stark darauf fokussiert zu sagen, Ostdeutschland ist etwas, was wir behandeln müssen.

Die dritte ist: Ostdeutschland und die Ost-West-Unterscheidung sind irrelevant und spielen keine Rolle mehr. Und es trennt uns, wenn wir so viel über die Unterschiede sprechen. 

Eine weitere Perspektive nehmen die Beiträge in unserem Buch ein. Das sind Ergebnisse von Analysen: Wieviel Ostdeutschland gibt es eigentlich, wie viele Ost-West-Unterschiede sind genuin? In vielen Bereichen finden wir eigentlich keine Ost-West-Unterschiede, zum Beispiel, wenn Politiker in Dialogformaten auf Bürger treffen und miteinander sprechen. Da sind es die konkreten Probleme vor Ort und die Ausgestaltung des Dialogs, die über den Erfolg entscheiden. Ost-West-Unterschiede spielen da kaum eine Rolle mehr. 

Wo sehen Sie denn die größten Unterschiede? 

Die größten Unterschiede gibt es zum Beispiel im wirtschaftlichen Bereich. Da wird oft gesagt: Wenn man sich Ostdeutschland kleinräumlich anschaut, dann sehen wir viele ländliche Regionen mit ihren eigenen Problemen, die gibt es aber im Westen auch. Jedoch: Die Regionen in Westdeutschland sind viel heterogener. Wenn wir uns die Heterogenität, also verschiedene Indikatoren wie Wirtschaftsleistung, Bruttosozialprodukt, Arbeitslosenquote und so weiter anschauen, da gibt es in Westdeutschland einen bunten Flickenteppich. In Ostdeutschland fallen ein paar Leuchttürme wie Leipzig, Dresden oder Jena auf. Aber im umgebenden Land sind benachteiligte Regionen. Und die Großunternehmen, die dann auch in diese ländlichen Regionen ausstrahlen könnten, fehlen im Osten. Das ist ein markanter Unterschied. Weiter: Natürlich gibt es unterschiedliche Steueraufkommen, auch in westdeutschen Bundesländern. Aber das ostdeutsche Bundesland mit dem höchsten Steueraufkommen liegt immer noch unter dem westdeutschen Bundesland mit dem geringsten Steueraufkommen. 

Wir fragen uns: Warum ist eigentlich im Osten zivilgesellschaftliches Engagement zum Teil geringer ausgeprägt als im Westen? Zivilgesellschaftliches Engagement wird oft von höher Gebildeten getragen. Es gibt es einfach weniger Akademiker im Ostdeutschland. Aber diese sind zudem auch seltener bereit, sich gesellschaftlich zu engagieren. Das ist ein genuiner Ost-Effekt.

Es wird ja viel über die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen gesprochen. Wir haben uns das angeschaut: Es gibt mit Niedersachsen nur ein westdeutsches Bundesland, das – gemessen an seiner Bevölkerungsanzahl – weniger Elitenpositionen besetzt als Ostdeutschland als Ganzes. Trotzdem sind die Niedersachsen ihrem Anteil gemäß auch in den Elite-Positionen vertreten. Woran liegt das? Weil sie das durch Mobilität innerhalb Westdeutschlands ausgleichen können. Das ist für die Ostdeutschen problematischer. Die kommen nämlich wenig in Elitenpositionen in Westdeutschland. Sie sind praktisch nur in Ostdeutschland mobil, aber hier gibt es weniger solche Positionen. Das ist ein weiterer Ost-Effekt. 

Was fällt Ihnen spontan ein: Wodurch zeichnet sich die ostdeutsche Identität aus? Wie ist der oder die typische Ostdeutsche?

Das ist eine sehr schwierige Frage, denn es gibt nicht diesen typischen Ostdeutschen. Es gibt ganz unterschiedliche Arten von ostdeutscher Identität. Ostdeutsche können sagen: Ich bin ostdeutsch, weil ich in der DDR aufgewachsen bin. Ich habe die und die Eigenschaften und die grenzen mich von den Westdeutschen ab. Medial ist der Ostdeutsche sehr präsent, der sich von der Demokratie abwendet, DDR-nostalgische Gefühle pflegt und vielleicht noch rechtsextrem wählt. Aber es gibt eben auch diejenigen, die sagen, ich bin in beiden Systemen aufgewachsen – in der DDR und gegen Ende meiner Sozialisation im wiedervereinten Deutschland sozialisiert. Ich habe diese sogenannte Transformationskompetenz, und die bringe ich gerne ein, weil ich mich nicht als Ostdeutscher fühle, sondern als jemand, der europäisch oder gesamtdeutsch denkt.

Gibt es im Gegenzug dazu auch eine typisch westdeutsche Identität? Und wie würden Sie diese beschreiben?

Das haben wir nicht untersucht, weil es die westdeutsche Identität im Grunde nicht gibt, weil nicht zwischen west- und gesamtdeutsch unterschieden wird. Das haben andere Studien gezeigt.

In Ihrem Buch gibt es ein Kapitel „Doing ostdeutsch“. Was ist darunter zu verstehen? 

Das beschreibt Handlungen, mit denen „ostdeutsch“ erschaffen wird, zum Beispiel durch Personen, die sich verschiedene Phänomene in Ostdeutschland damit erklären, dass die Ostdeutschen irgendwie anders sind. Man spricht zum Beispiel immer über Landtagswahlen in Ostdeutschland, nicht über Landtagswahlen in Thüringen oder Sachsen, wie man das machen würde, wenn es um Hessen oder das Saarland ginge. In Westdeutschland wird man das kaum als Überschrift finden.

Würden Sie sagen, Ostdeutsche haben eine Transformationskompetenz? Würden Sie das einem Großteil zuordnen? 

Das wird im Wesentlichen von Personen gesagt, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung relativ jung waren und größtenteils noch in der DDR sozialisiert wurden. Die älteren Jahrgänge nehmen das seltener für sich in Anspruch. In einem unserer Beiträge werden Strategien analysiert, die die Ostdeutschen als die besseren Deutschen zeigen wollen, weil sie eben ehemalige Primärtugenden wie Leistungsbereitschaft und eine kritische Haltung gegenüber der Diktatur stärker vertreten können. Das ist natürlich ein Narrativ, das vor allem von Personen des rechten politischen Spektrums, insbesondere von der AfD, benutzt wird. Ich würde das aber subsumieren unter abgrenzende Identität. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums werden Wähler durch Abgrenzung mobilisiert, die wiederum eine Benachteiligungserfahrung kompensieren soll. Eine Motivation unseres Bandes war zu zeigen, dass die Defizit- und Abgrenzungsperspektive nicht die einzige Form ist, über Ostdeutschland zu sprechen.

 

 

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