Wer in der Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks Literatur lesen oder schriftlich verbreiten wollte, war auf das Medium des handgeschriebenen Buches angewiesen.
Da das Bild von der literaturgeschichtlichen Entwicklung im Mittelalter im Wesentlichen auf dem basiert, was anhand der erhaltenen Handschriften abzuleiten ist, können neue Funde oder die Neubewertung bekannter Handschriftenzeugnisse das bisherige Bild ergänzen, korrigieren oder sogar massiv verändern. Beispielhaft seien hier drei Forschungsergebnisse aus den verschiedenen Aktivitäten des Leipziger Handschriftenzentrums vorgestellt, bei denen genau das in den letzten Jahren gelungen ist.
Bei der DFG-geförderten Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe wurde das Alter der Handschrift B V 13 mit Hilfe einer Analyse der Papierwasserzeichen erstmals genauer bestimmt. Sie enthält auf den ersten 90 Blättern das „Buch der Sieben Grade“, eine geistliche Reimdichtung des bekannten, aber anonymen Autors „Mönch von Heilsbronn“. Die Handschrift war bislang meist in die Zeit um 1400 datiert worden, nun aber erwiesen die Wasserzeichen, dass es sich um eine der frühesten deutschsprachigen Handschriften auf Papier handelt, die wohl um 1335 – 1340 geschrieben wurde. Damit steht erstmals auch für die Lebensdaten des Autors ein fester Anker zur Verfügung. Da die Handschrift offenbar nah an den Wirkungsort des Mönchs von Heilsbronn heranführt, wissen wir nun, wann das „Buch der Sieben Grade“ spätestens abgeschlossen vorgelegen haben muss.
Fragmente mittelalterlicher Handschriften halten oft besondere Überraschungen bereit. Sie wurden aufgrund ihres kostbaren Schreibmaterials Pergament oder Papier häufig als Werkstoff für Bucheinbände wiederverwendet. Ein bedeutsamer Fund unter den bislang nicht aufgearbeiteten Handschriftenfragmenten der Anhaltinischen Landesbücherei Dessau war eine gereimte Mariengruß-Dichtung, die bisher keinem bekannten Mariengruß zugeordnet werden konnte. Anhand der besonderen Schriftausprägung ließ sich das Mariengruß-Fragment in das letzte Drittel des 13. Jahrhunderts datieren. Damit verändert sich auch das Bild der Literaturgeschichte, denn nach bisherigen Vorstellungen kam die im Spätmittelalter beliebte Gattung des Mariengrußes erst im Laufe des 14. Jahrhunderts auf. Der Dessauer Mariengruß zeigt, dass diese Entwicklung aber bereits spätestens in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts einsetzte.
Besonders gravierende Auswirkungen hatte ein Fragmentfund in der Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek Wittenberg. Bei einem Sammelband mit Drucken aus der Mitte des 17. Jahrhunderts war man dort auf ein Blatt aus einer älteren deutschen Handschrift gestoßen, das als Einbandbezug diente. Es erwies sich schnell, dass es sich um einen neuen Textzeugen einer bereits bekannten, 5392 Reimpaarverse umfassenden Übertragung des im Mittelalter äußerst populären Evangelium Nicodemi handelt, die von dem Autor Heinrich von Hesler stammt. Das Spektakuläre war die Datierung des neuen Fragments: Bislang ging man davon aus, dass Heinrich von Hesler im späten 13. Jahrhundert oder gar erst im 14. Jahrhundert wirkte. Das Wittenberger Bruchstück aber muss, wie der Schriftbefund eindeutig zeigt, bereits im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts geschrieben worden sein, wohl um 1215 – 1225. Damit wird Heinrich von Hesler zu einem unmittelbaren Zeitgenossen von Wolfram von Eschenbach, auf den er sich auch in einem anderen Werk bezieht, und ordnet sich in ein völlig anderes literaturhistorisches Umfeld ein, in die höfische Literatur der sogenannten Blütezeit um 1200.
So lässt sich zusammenfassend sagen, dass im Leipziger Handschriftenzentrum, das am 6. Dezember 2020 sein 20-jähriges Jubiläum feierte, die mittelalterliche deutsche Literaturgeschichte immer wieder ein wenig umgeschrieben werden konnte.
Kommentare
Keine Kommentare gefunden!