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Daniela Ruß nennt es sozial- und kulturwissenschaftliche Ressourcenforschung. Die zum 1. Oktober 2022 an das Global and European Studies Institute der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie neuberufene Juniorprofessorin befasst sich mit dem Wandel gesellschaftlicher Naturverhältnisse. Sie sucht dabei unter anderem nach Begriffen, die das gesellschaftliche Naturverhältnis mit Blick auf ökologische Fragen beschreiben und analysiert Brüche ebenso wie Kontinuitäten in der erneuerbaren Energiewirtschaft. Außerdem arbeitet Dr. Ruß gerade an einem Antrag für ein Forschungsprojekt, in dem sie den Übergang von einem fossilen in einen grünen Kapitalismus untersuchen möchte. Im Interview berichtet sie von ihren zahlreichen Vorhaben in Forschung und Lehre, ihrer Liebe zum Beachvolleyball und welche ganz besondere Bedeutung die Universität Leipzig für sie hat.

Was haben Sie studiert – und wo?

Nach der Schule interessierte ich mich für viele Studienfächer und es fiel mir nicht leicht, mich zu entscheiden. Ich habe zunächst Sozialwissenschaften und Slawische Sprachen in Berlin und Belgrad studiert, und während meines Masters begonnen, einige Kurse in Physik zu belegen. Dabei habe ich dann schnell gemerkt, dass ich eher am Beobachten von Naturwissenschaftler:innen interessiert bin als am Treiben von Naturwissenschaft. Aus dieser Erfahrung entstand dann meine Dissertation, eine historisch-soziologische Forschung zur Energiewirtschaft und der Rolle natur- und ingenieurwissenschaftlichen Wissens in ihrer Entstehung.

Was waren im Anschluss Ihre wichtigsten beziehungsweise Ihre letzten beruflichen Stationen?

Meine Promotion hatte ich in Bonn begonnen. Hier war meine Arbeit Teil eines wissenschaftssoziologischen Forschungsprojektes, in dem es darum ging, die Rolle der Wissenschaft in der Diagnose und Bearbeitung von ‚global challenges‘ – also etwa dem Klimawandel oder der Energiesicherheit – zu untersuchen. In den ersten Jahren habe ich recht wild alles gelesen, was etwas mit Energie zu tun hat. Dabei wurde mir klar, dass ich mich eher für die materiellen, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen interessiere, unter denen Energiesicherheit überhaupt zu einem Thema werden kann. In zwei Forschungsaufenthalten am Deutschen Historischen Institut in Moskau und bei Timothy Mitchell an der Columbia University veränderte sich meine Arbeit noch einmal grundlegend. Promoviert habe ich dann im Graduiertenkolleg "World Politics" in Bielefeld. In dem Buch, das ich gerade auf Grundlage meiner Dissertation schreibe, frage ich, wie aus so unterschiedlichen Stoffen wie Wasser, Öl, Gas, oder Wind, ein Ding gemacht werden konnte, das produziert, gehandelt und konsumiert wird – eben Energie.

In den letzten drei Jahren war ich dann als Post-Doc an der University of Toronto in Kanada, wo die Historische Soziologie besser vertreten ist als an deutschen Soziologieinstituten. Eine Einsicht meiner Dissertation, die mir besonders wichtig wurde, ist die historische Verbindung von weltwirtschaftlicher Emanzipation und dem Aufbau einer Energiewirtschaft. Oder anders: Mich interessieren die hoffnungsvollen Projekte – auch in ihrem Scheitern – durch Aneignung der Energieressourcen und rationale Planung unabhängiger zu werden und ein neues gesellschaftliches Naturverhältnis realisieren zu können. In Toronto habe ich ein kleines Forschungsprojekt eingeworben, das diesen Aspekt in Bezug auf die Sowjetunion und einige postkoloniale Staaten genauer untersuchen sollte. Leider musste ich die Archivforschungen aufgrund der Lockdowns, Reisebeschränkungen und des Krieges immer wieder aufschieben; auch diese Arbeit werde ich in Leipzig weiterführen.

Was fasziniert Sie an Ihrem Forschungsgebiet und was sind Ihre Schwerpunkte?

Ich untersuche den Wandel gesellschaftlicher Naturverhältnisse aus einer Perspektive, die ich eine sozial- und kulturwissenschaftliche Ressourcenforschung nennen würde. Mich begeistert an diesem Gebiet, dass sich die Sozial- und Geisteswissenschaften hier wieder einen Gegenstand aneignen, der im 19. Jahrhundert noch selbstverständlicher Teil ihrer Forschung war und der ihnen über das 20. Jahrhundert verloren gegangen ist: die materielle Reproduktion von Gesellschaft und ihr historischer Wandel. Meine Schwerpunkte werden dabei einerseits theoretisch sein – welche Begriffe von Natur, Materialität und Geschichte brauchen wir, um das gesellschaftliche Naturverhältnis vor dem Hintergrund der ökologischen Frage verstehen zu können? Andererseits gibt es auch Fragen, die sich nur empirisch beantworten lassen – welche Brüche und Kontinuitäten lassen sich in der erneuerbaren Energiewirtschaft beobachten? Wie unterscheidet sich die wirtschaftliche Ausbeutung der "fließenden" Ressourcen Wind und Sonne von denen fossiler Brennstoffe?

Haben Sie sich für Ihre Tätigkeit an der Universität Leipzig ein bestimmtes Forschungsziel gesetzt? Welches?

Ich kann mir Forschung gar nicht so vorstellen, dass sie ein Ziel hat, an dem sie endet. Das Ziel wäre vielleicht – gerade, wenn man in die vielen Aufgaben an einer Universität hineinwächst – nie an einem Forschungsziel anzukommen, immer weiter zu fragen, nie aufzuhören zu forschen, auch wenn einzelne Projekte enden.

Mein erstes Projekt wird es sein, endlich mein oben erwähntes Buch ‚Working Nature: Steam, Power, and the Making of the Global Energy Economy‘ zu Ende zu schreiben. Darüber hinaus arbeite ich bereits an einem zweiten Buch zur sowjetischen Energetik, das sich mit den Besonderheiten energiewirtschaftlicher Theorie und Praxis im Sozialismus beschäftigt. Heute setzt Russland ganz auf Öl und Gas, aber das war nicht immer so: In dem Buch geht es um darum, wie sowjetische Ingenieure die Energiewirtschaft als Einheit von Strom- und Wärmewirtschaft konzeptualisierten, wie sie regionale energetische Wirtschaftsplanung betrieben und wie planetare Vorstellungen zu einem frühen Experimentieren mit Erneuerbaren Energien führte. Diese sowjetische Schule der Energetik hat im Einzelnen und am Rande, jedoch nicht insgesamt, zu einer alternativen Energiewirtschaft geführt. 

Schließlich arbeite ich gerade an einem Antrag für ein Forschungsprojekt, in dem ich den Übergang von einem fossilen in einen grünen Kapitalismus untersuchen möchte. Unter dem Begriff des fossilen Kapitalismus wurde in den letzten Jahren ein historisches mit einem systematischen Argument verbunden: Im Übergang von Wasser- zu Dampfkraft, von Holz zu Kohle, wie er im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika einsetzt, manifestiert sich die industrielle Form des Kapitalismus, in der wir noch heute leben. Mit fossilen Ressourcen, Dampfkraft, und später Elektrizität, wird die Energie zu einem verfügbaren Produktionsfaktor, der unabhängig von geographischem Raum, Wetter und Jahreszeiten ist – eine ‚Universalisierung der Produktion in Zeit und Raum‘, wie Andreas Malm das genannt hat. Im Projekt der Energiewende, einem Rück- oder Übergang zu den Erneuerbaren, wird diese Universalisierung problematisch. Konkret sehen wir das etwa an der Schwierigkeit, mit einem hohen Anteil erneuerbarer Energien ein Elektrizitätsnetz zu betreiben oder eine hundertprozentige Abdeckung des Bedarfs zu gewährleisten. Aber auch bei der Produktion von Elektrizität aus Erneuerbaren und bei ihrem Ausbau gibt es immer wieder Probleme ihrer kapitalistischen Verwertung, die mit ihrer Unbeständigkeit zu tun haben. Meine sowjetischen Ingenieure hätten die Frage vielleicht so geschichtsphilosophisch zugespitzt: Sind Photovolatik und Off-Shore-Wind die letzten Erfindungen des Kapitalismus? Erzwingt die Form der Erneuerbaren eine andere Wirtschaftsweise? Ganz abgesehen davon, dass die Frage schon einen gewissen Energiefetisch ausdrückt, erscheint mir das sehr unwahrscheinlich. In dem Projekt möchte ich gerne genauer untersuchen, wie die Erneuerbaren – technisch, rechtlich, finanziell – verwertbar gemacht werden.

Würden Sie bitte kurz einige Schwerpunkte nennen, die Sie in der Lehre setzen wollen?

Zunächst einmal würde ich gerne Interesse wecken an einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Technik, Naturwissenschaften und Ressourcen, und zeigen, dass man sich dafür nicht in eine Ingenieurin verwandeln muss – ganz im Gegenteil. Darüber hinaus versuche ich, die Lehre nicht so kanonisch zu gestalten, sondern eher aus meiner Forschung heraus zu entwickeln: Im Moment gebe ich zum Beispiel ein Seminar, in dem wir uns mit den zahlreichen Verbindungen, Einflüssen, und Abhängigkeiten von elektrischer und digitaler Wirtschaft beschäftigen. Da es noch nicht sehr viel Forschung dazu gibt, gehen wir eher explorativ, suchend vor, und das ist eine Art der Lehre, die ich persönlich sehr schätze.

Bitte beenden Sie folgenden Satz: „Die Universität Leipzig ist für mich…“

… der Ort, an dem aus dem Glück über die Stelle, der Freude an Forschung, Lehre und Austausch, und dem dramatischen Zustand der Welt irgendwie meine Arbeit entsteht.

Antworten Sie gern mit persönlichem Bezug oder allgemein: Welche Entdeckung, Erfindung oder Erkenntnis wünschen Sie sich in den nächsten zehn Jahren?

Sehr spannend finde ich die Entwicklung von organischen Batterien, das heißt Batterien, die organische, nicht mineralische, Stoffe zur Energiespeicherung nutzen. Ich bin skeptisch gegenüber der weltverändernden Kraft einer einzelnen Technologie, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie neue Möglichkeiten eröffnet für den Umbau der Energiewirtschaft und die sozialen Konflikte darum.

Welche Hobbys haben Sie?

Ich habe mit großer Freude festgestellt, dass sich in Leipzig der größte Beachvolleyballverein Deutschlands befindet. Oder zumindest ein Verein, der das von sich behauptet.

Haben Sie ein bestimmtes Lebensmotto, das Ihnen auch über schwierige Phasen hilft?

Die Soziologin und Kritische Theoretikerin Gillian Rose beginnt ihr Buch "Love’s Work" mit der doppelten Aufforderung ‚keep your mind in hell and despair not‘, die ich seither nicht mehr vergessen habe.

Vielen Dank.

 

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