„Bevor ich mein Amt als Kanzler der Universität Leipzig am 1. März 1991 antreten konnte, erhielt ich Ende Januar die Nachricht über die Wahl von Cornelius Weiss zum Rektor. Wir kannten uns nicht, aber ich gratulierte ihm brieflich und sprach die Hoffnung aus, dass ich ihm ‚ein guter Gehilfe‘ sein würde. Bereits nach unserer ersten Begegnung war ich überzeugt, dass wir zusammenpassen: Die offene und herzliche Art, mit der er mich empfing, die großartige Rede, die er bei der Amtseinführung des neuen Rektoratskollegiums am 11. März 1991 hielt, und die ersten Beschlüsse, die wir dann gemeinsam fassten – all das ließ eine gedeihliche und deshalb erfolgreiche Zusammenarbeit erwarten.
Die uns schwer belastenden Probleme – allein die riesige Zahl von Mitarbeitern, die wir nicht weiterbeschäftigen konnten, die weitgehend technisch verschlissenen Gebäude, die aus ideologischen, wie auch finanziellen Gründen völlig unzureichende Ausstattung mit der wissenschaftlichen Literatur fast aller Fächer und schließlich – meine größte Aufgabe – der Umbau der Verwaltung von einem Befehls- in einen Dienstleitungsapparat – haben uns anfangs manchmal sehr niedergedrückt.
Schon bald nach der Ankündigung des dramatischen Stellenabbaus war ich recht niedergeschlagen in die am Freitagvormittag stattfindende wöchentliche Sitzung des Rektoratskollegiums gegangen. Weiss – auch sonst mit sicherem Gespür für die Stimmungen im Kollegenkreis – sagte zu mir beim Verlassen des Zimmers: „Wenn Sie eine Aufmunterung brauchen, gehen Sie in die Moritzbastei, unseren Studentenclub. Dort werden Ihnen junge Leute begegnen, die über so viel positive Energie verfügen, dass Sie das aufrichten wird!“
Und tatsächlich: Was ich hier antraf, hätte ich in dem damals grauen, luftverpesteten Leipzig mit seinen meist menschenleeren Straßen und verfallenden Häusern nicht erwartet: Hier gab es bereits damals die später für die ganze Stadt so typische optimistische Grundstimmung, die mich ansteckte und in mir die Erwartung weckte, dass die Verwandlung von Stadt und Universität in diesem Geist erfolgen musste, aber auch gelingen konnte.
Was ich erst später erfuhr: In den Gewölben der „MB“ hatte Cornelius Weiss noch in der tiefsten DDR-Zeit mit Kollegen und Studenten Jazz-Musik gespielt. Außerdem muss ich in der Erinnerung immer noch darüber lachen, wie Weiss sich mit doppelbödigem Witz gegen die Zumutungen der SED-Diktatur zur Wehr gesetzt hat. Damals gab es für die nicht der SED angehörenden Dozenten teilnahmepflichtige gesellschaftspolitische Fortbildungsveranstaltungen. Weiss erzählte und spielte vor, wie er den morgendlichen Fahnenappell karikiert hat: Im Passgang – also gleichzeitig linkes Bein und linker Arm, dann rechtes Bein und rechter Arm – marschierte er im Stechschritt zur Fahne und brüllte todernst die vorgeschriebene Parole, während seine Kollegen sich das Lachen – wenn überhaupt – nur mühsam verkneifen konnten.
Von den ernsteren Angelegenheiten, die natürlich den Alltag bestimmten, will ich nur an seinen Kummer darüber erinnern, dass es uns nicht gelang, unsere Vorstellungen über eine freiheitliche Organisation von Forschung und Lehre wenigstens als Möglichkeit zu erhalten. Weiss schwebte vor, die Institutsstruktur so anpassungsfähig zu gestalten, dass sich immer wieder am Fortgang der wissenschaftlichen Erkenntnisse orientierte, neue Verbünde bilden könnten. Auch ich war ja nach Leipzig gekommen, um neue Formen der Wissenschaftsorganisation zu erproben, denn die westdeutschen Universitäten zeigten mit ihrem Massenbetrieb, den viel zu langen Studienzeiten und den beträchtlichen Zahlen von Studienabbrechern mehr als deutlich, wie reformbedürftig die Universitäten der (alten) Bundesrepublik waren.
Die Dresdener Ministerialbürokratie verhinderte aber jeden Ansatz zu flexibleren Strukturen. Dies wurde in der Mitte der zweiten Amtszeit von Cornelius Weiss besonders deutlich, als das Konzil die neue Universitätsverfassung zu verabschieden hatte. Bis zum Schluss hatten wir in unseren Entwürfen für mehr Experimentiermöglichkeiten gekämpft. Uns wurde zugemutet, eine Kröte nach der anderen zu schlucken. Aber sogar nach der Verabschiedung wurde von Dresden noch in den Text eingegriffen. Zwei Vorschriften durften nicht angewendet werden. Dabei ging es um die – sicher nicht besonders bedeutende – Frage, wie Stimmenthaltungen für das Zustandekommen eines Beschlusses zu werten sind: Sind sie bei der Ermittlung der Mehrheit relevant oder nicht? Der zweite Eingriff war gravierender. Wir wollten den Wissenschaftlern wenigstens etwas mehr Einfluss für die Beschaffung von Literatur einräumen. Aber das widersprach den zentralistischen Tendenzen, die das ‚einschichtige‘ Bibliothekssystem mit sich brachte. Das erzeugte in der Folgezeit immer wieder Auseinandersetzungen über die Prioritäten zwischen den Bibliothekaren und den Wissenschaftlern, wie überhaupt das sächsische Hochschulrecht, das sich auf die Praktiken in Bayern und Baden-Württemberg stützte, auch heute noch napoleonischen Geist atmet. Gemeinsam bemühten wir uns, endlich die zentralistische Gängelei zu überwinden. Soweit dies wenigstens in Ansätzen gelungen ist, war es das Verdienst des so geradlinigen und engagierten Demokraten Cornelius Weiss.
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