Hamilton ist eine idyllische Ortschaft im Norden des Bundesstaates New York. Die Gegend ist agrarisch geprägt. Als nächste bedeutende Großstädte liegen Utica und Syracuse knapp 50 bzw. gut 60 Kilometer entfernt. Seit dem 19. Jahrhundert ist Hamilton, genauer gesagt, The Village of Hamilton, die Heimat der Colgate University, einem als „Hidden“ oder „Little Ivy“ aufstrebenden Liberal Arts College mit 3.200 Studierenden. Da Professor Ian Helfant gerade ohnehin in Syracuse war, bot er mir an, mich von dort in seinem neuen Tesla mitzunehmen. Ökologisches Bewusstsein wird an seiner Alma Mater großgeschrieben. Als erste Hochschule des Bundesstaates New York gilt Colgate seit April 2019 als klimaneutral. Nachhaltigkeit ist auch ein wichtiges Thema in den Lehrplänen. So unterrichtet Ian – mit den amerikanischen Kollegen ist man bekanntlich sofort per Du – nicht nur Kurse zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion, sondern auch zu „Hunting, Eating, and Vegetarianism“. Hier verfolgt er das erklärte Ziel, „differenzierte und ethisch fundierte Positionen in unserer Beziehung zu den Tieren zu entwickeln, mit denen wir zusammenleben“ sowie „die Herausforderungen und Möglichkeiten zu verstehen, mit denen jene konfrontiert sind, die sich verantwortungsvoll ernähren wollen.“ Und das „unabhängig davon, ob sie sich für eine omnivore oder pflanzliche Diät entscheiden.“ Soweit der Syllabus.
Nachhaltigkeit, Mehlwurm-Ameisen-Snacks, Privatjets...
Eine Reise an die Colgate-University (USA): Akademischer Austausch mit ökologischem Impact
Dr. Timm Schönfelder vom Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) hat die Colgate University im US-Bundesstaat New York besucht und berichtet in seinem Blogbeitrag darüber. Im Juni 2023 wurde ein neues Kooperationsprogramm zwischen der Universität Leipzig und der Colgate University initiiert. Finanziert von einer großzügigen privaten Spende dient es der Bildung akademischer Netzwerke. Ziel ist es, die beiden Institutionen über persönliche Kontakte von Forschenden enger zusammenzubringen. Dazu werden Kurzaufenthalte von Wissenschaftler:innen beider Seiten gefördert. Im November ist dieses Programm offiziell angelaufen.
Krabbeltiere als Köstlichkeiten
Passend zu dieser umweltbewussten Einstellung liegt der Universitätscampus im Grünen, gesäumt von ausladenden Rasenflächen, einem Waldstück und einem künstlichen See, auf dem unzählige Kanadagänse rasten. Die Studierenden genießen ein breites Freizeitangebot, von sportlichen Aktivitäten – Colgate ist in einschlägigen College-Ligen sehr erfolgreich – bis hin zu Besuchen berühmter Persönlichkeiten. So ist es Ian gelungen, den Starkoch Joseph Yoon für einen Tag nach Hamilton zu holen. Yoon hat sich während der Coronapandemie auf die Zubereitung von Insekten spezialisiert. Dazu hält er zwei gut besuchte Vorträge, auf denen er seine Küchenphilosophie samt seinen Kreationen vorstellt: Guacamole mit Ameisen für eine besonders knusprige Säure sowie Brownies, aus denen statt Krümeln gleich ganze Mehlwürmer purzeln. Ein „acquired taste“, aber ganz im Sinne der Unipolitik. Die Studierenden zeigen sich verständnisvoll interessiert. Ian hatte sie gut vorbereitet. In den nachfolgenden Sitzungen von „Hunting, Eating, and Vegetarianism“ diskutieren wir dann gemeinsam über Ethiken der Tiernutzung in den USA und Europa, über Unterschiede in der Jagdausübung (mein Forschungsthema, zu dem ich auch einen gesonderten Abendvortrag hielt) sowie über kulturelle Dimensionen der Naturnutzung seit der Frühen Neuzeit.
Achtsamkeit und Putinismus
Doch auch in tagespolitischen Themen bleibt Colgate am Puls der Zeit. Über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und seine Bedeutung für die Forschung wird viel gesprochen. Ist Putin nun ein faschistischer Führer, der seine Bevölkerung in ein totalitäres Korsett zwängt? Differenzierung tut not in diesen Tagen, weshalb wir uns in Ians zweitem Kurs „Russia at the Crossroads of East and West“ eingehend mit dem politischen System sowie mit staatlicher Propaganda beschäftigen. Da Colgate als in sich geschlossene Campusuniversität ähnlich einem Internat viel Wert darauf legt, den Studierenden ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben, werde ich gebeten, die Anwesenden nicht über Gebühr mit der Härte der Welt zu konfrontieren. Vor allem die jüngeren Semester brauchten hin und wieder eine Verschnaufpause – ungewohnt für einen in Deutschland sozialisierten Akademiker, wo einerseits viel stärker die Selbstständigkeit der Studierenden gefordert wird, sich aber auch deren Betreuung sichtbar schwieriger gestaltet: In Colgate kümmert sich im Schnitt ein:e Dozierende:r um neun Studierende, in Deutschland sind es nach neueren Statistiken 65 pro Professur. Dafür ist die Colgate University aber auch ein privates Unternehmen, das sich wie andere Institutionen in den USA über hohe Studiengebühren finanziert. Ein bedeutender Teil der Studierenden kommt aus sehr wohlhabenden Familien. Ihre Privatjets kann man auf dem Hamilton Municipal Airport bestaunen. Die Einwohner der Stadt beklagen sich derweil über fortschreitende Gentrifizierung und steigende Lebenshaltungskosten.
Vielversprechende Perspektiven
Trotzdem – oder gerade deshalb? – besitzt die neue Partnerinstitution der Universität Leipzig eine ganze Reihe fruchtbarer Anknüpfungspunkte für den wissenschaftlichen Austausch. Das Kollegium ist neben seinen Lehrverpflichtungen sehr aktiv in der Forschung. Es fällt leicht, in Kontakt zu treten und gemeinsame Ideen für die Zukunft zu spinnen – vielleicht umso mehr, wenn man sich für Umweltthemen und ökologische Fragestellungen begeistert. Dafür bietet die Colgate University ein erfrischend offenes Umfeld, das nicht zuletzt aufgrund der starken fachlichen Spezialisierung auf die Geisteswissenschaften naturgemäß kohärenter wirkt als die deutlich größeren deutschen Volluniversitäten. So war der Aufenthalt nicht nur mit Blick auf die Rolle nachhaltigen Wirtschaftens ein sehr lehrreiches Erlebnis, sondern auch der Beginn wunderbarer akademischer Freundschaften.
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Erstellt von: Dr. Timm Schönfelder
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