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Im September 2024 ist das internationale Doktorandennetzwerk MECANO gestartet. Es untersucht die Mechanismen der Wissensüberlieferung und Kanonbildung antiker griechischer und lateinischer Texte bis in die Gegenwart. Die Universität Leipzig ist eine von fünf beteiligten Universitäten weltweit. Das Netzwerk wird bis Anfang 2028 mit 2,7 Mio. Euro von der EU-Kommission gefördert. Der Leipziger Teil des Netzwerks wird geleitet von PD Dr. Monica Berti (Historisches Seminar) und Prof. Dr. Manuel Burghardt (Informatik). Wir haben mit ihnen über Inhalte und Ziele gesprochen.

Was kann man sich unter MECANO genau vorstellen? Was hat sich das Projekt vorgenommen?

Monica Berti: Wir untersuchen, wie bestimmte antike Autoren, Texte und Ideen über die Jahrhunderte gewissermaßen zum „Standard“ der Wissensvermittlung wurden, wie sie über Generationen weitergegeben wurden und unsere Bildung bis heute prägen. Mit Hilfe digitaler Methoden möchten wir herausfinden, wie sich solche impliziten Kanons über Zeit und Raum hinweg veränderten, indem sie in verschiedenen kulturellen, intellektuellen und sprachlichen Umgebungen rezipiert wurden. Methoden der Digital Humanities eröffnen uns dabei neue Horizonte: Das Team von Manuel etwa arbeitet an der Erfassung kanonischer Zitate in wissenschaftlichen Diskursen unterschiedlicher Fächer über die Jahrhunderte hinweg. Das sind massenhafte Daten, die gezielt vernetzt verarbeitet werden müssen. Ich selbst analysiere, in welchem Umfang welche klassischen Autoren in Kanons überliefert sind, und suche nach Spuren von Autor:innen und Texten, die bereits in der Antike aus den Kanons herausgefallen sind. 
Bei dem Vorhaben geht es also darum, die Dynamiken der Kanonizität von Texten in einer Langzeitperspektive zu untersuchen. Dafür werden wir qualitative Ansätze der geisteswissenschaftlichen Forschung und der Rezeptionsforschung mit digitalen und computergestützten Methoden zur Erforschung umfangreicher Textkorpora kombinieren.

Die rasante Entwicklung von Rechenleistung und maschinellem Lernen gibt uns Möglichkeiten, von denen frühere Generationen nur träumen konnten.

Manuel Burghardt

Im Projekt verbinden Sie Klassische Philologie mit der noch relativ jungen Disziplin der Digital Humanities? Was heißt das konkret?

Manuel Burghardt: Es geht wie gesagt darum, computergestützte Rechenmethoden auf die Geisteswissenschaften anzuwenden, die bisher hauptsächlich qualitativ ausgerichtet waren. Dabei profitieren wir von mehreren Umständen: Zum einen gehört die Digitalisierung von Werken mittlerweile zum Standard-Repertoire zur Sicherung von Archiv- und Bibliotheksbeständen. Das heißt, wir können auf weit mehr strukturierte Daten zugreifen als noch vor etwa 15 Jahren. Zum anderen gibt uns die rasante Entwicklung von Rechenleistung und maschinellem Lernen Möglichkeiten, von denen frühere Forscher:innen-Generationen nur träumen konnten. So können wir beispielsweise gezielt nach bestimmten Mustern in großen Textkorpora suchen, wiederverwendete Textbausteine in Übersetzungen erkennen und Zusammenhänge zwischen Daten visualisieren. Beim MECANO-Projekt geht es inhaltlich aber auch selbst um quantitative Fragen, um das Vermessen von Kanons – das schreit förmlich nach groß angelegter rechnerischer Unterstützung. Damit ist dieses Projekt ein ideales Beispiel für die Verbindung der Disziplinen. 
Und die inhaltlichen Fragen bringen auch die Digital Humanities weiter: zum Beispiel indem wir bestehende Daten-Modelle für diese spezifischen Fragen weiterentwickeln. Oder andere Sprachen mit aufnehmen, in denen Übersetzungen verloren gegangener griechischer oder lateinischer Texte noch zugänglich sind, wie etwa Arabisch. 
Das Faszinierende ist übrigens, dass das Wort „Kanon“ aus dem griechischen wörtlich übersetzt „Maßstab“ bedeutet. Es geht also wortwörtlich um das Messen, um das Vermessen von Texten.

Monica Berti: Digitale Methoden helfen uns, linguistische und syntaktische Elemente zu extrahieren, also etwa die Zitate von Autor:innen, Texten und Ideen in vielen verschiedenen Kontexten aufzeigen. Diese Analysen sind wichtig, um neue Texte und Autor:innen zu entdecken, die in Vergessenheit geraten sind und somit aus dem Kanon der antiken Literatur herausgefallen sind.

Wie unterscheidet sich MECANO von anderen Forschungsvorhaben?

Manuel Burghardt: Bei dem Projekt handelt es sich um ein von der EU gefördertes Doktorand:innen-Netzwerk, an dem fünf Universitäten beteiligt sind, und zwar mit 10 Doktorand:innen, 19 Betreuer:innen und 9 Berater:innen. Das Schöne ist, dass nicht nur jeder und jede eine eigene Forschungsfrage verfolgt, sondern dass wir auch vernetzt an dem gemeinsamen Rahmenthema arbeiten, nämlich welche Mechanismen bei der Kanonbildung konkret greifen. Dabei gibt es an jeder Universität Principle Investigators, wie Monica und mich für Leipzig, die jeweils federführend eine:n Doktorand:in an der eigenen Uni betreuen, aber auch jeweils eine:n andere:n Doktorand:in im Netzwerk ko-betreuen. Das finde ich in dieser Form der Vernetztheit und Kooperation einzigartig, insbesondere, da wir ja aus unterschiedlichen Fachbereichen kommen. 

Darüber hinaus arbeiten wir – und das war eine Bedingung für die Förderung – mit neun außeruniversitären Partnern zusammen: Das sind Bibliotheken, wissenschaftliche Verlage, Forschungsstellen und ein Museum. Jede:r Doktorand:in verbringt drei Monate bei einem dieser Partner. Das ist natürlich fantastisch, weil sie im Rahmen ihrer Arbeit die Gegebenheiten des Wissenschaftsbetriebs aus einer anderen Perspektive kennenlernen und Erfahrungen sammeln, die ihnen in ihrem beruflichen Werdegang nützen. Auf der anderen Seite profitieren die Einrichtungen auch von uns. Der Transfergedanke ist hier also sehr stark. Meine Doktorandin, Luisa Ripoll Alberola, wird an der Deutschen Nationalbibliothek sein, die die Digital Humanities vor Jahren als wichtigen Zukunftsbereich entdeckt und seither kontinuierlich weiterentwickelt hat. Der Doktorand von Monica, Leonardo D'Addario, wird in Leuven und in Leiden für ein Praktikum bei Brill Publishers arbeiten.

Was steht als nächstes an? Können auch andere daran teilnehmen?

Monica Berti: Das MECANO-Projekt zielt ja darauf ab, den wissenschaftlichen Nachwuchs in Sachen Digital Humanities zu befähigen. Dazu gehört auch, dass die Universitäten Sommerschulen, Workshops und Online-Seminare zu bestimmten Themen anbieten. Der erste Workshop wird hier bei uns an der Universität Leipzig stattfinden und in grundlegende digitale Methoden für die Textanalyse einführen. Er findet vom 22. bis 24. Januar 2025 statt. Da kommen alle Doktorand:innen und Betreuer:innen nach Leipzig. Er wird aber auch für interessierte Forschende und Studierende der Universität Leipzig offen sein, die nicht Teil des MECANO-Netzwerks sind. 

MECANO steht für: Mechanics of Canon Formation and the Transmission of Knowledge from Graeco-Roman Antiquity. Auf Deutsch: Mechanik der Kanon-Formation und die Wissensüberlieferung der Griechisch-Römischen Antike. Es ist ein Marie Skłodowska-Curie Actions Doctoral Network (MSCA-DN), gefördert mit 2,7 Mio. Euro von der Europäischen Kommission.

Beteiligte: 

5 Universitäten: 

10 Doktorand:innen verschiedener Nationalitäten, 19 Betreuer:innen und 9 Berater:innen,

9 außeruniversitärer Partner:

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