Die Lausitz ist für Generationen von Thomas Familie ein Zuhause. Ihre Großeltern wohnten in der Oberlausitz, „in der Nähe der Abbruchkante”, erläutert sie. „Das allgegenwärtige Schürfgeräusch konnte einen bis in den Schlaf verfolgen, erzählte mir meine Tante”. Sie selbst wuchs in Cottbus/Döbbrick am Rande des Tagebaus auf, der tiefe Wunden in die Landschaft grub. Einer der Orte, der weichen musste, war der Cottbuser Ortsteil Lakoma. „Für mich war es ein Sehnsuchtsort: mit knorrigen Obstbäumen, Seen und alten geschnitzten Holzstatuen, die sorbische Sagenfiguren darstellten”, erinnert sie sich. „Und dann war da einfach nur noch Grube.” Und das trotz lauter Proteste der Bevölkerung.
„Ich weiß nicht, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich nicht an einem Abbaggerungsgebiet groß geworden wäre. Ich weiß nicht, wie es aussehen würde, wenn ich in einer Weltstadt groß geworden wäre, in der die rechten Demos nicht so präsent gewesen wären, überlegt sie. „Ich weiß aber auch, dass ich durch das Kinder- und Jugendtheater Piccolo in Cottbus sehr viel Hoffnung erlebt habe und dass es sich lohnt, über die Dinge nachzudenken, die passieren, und etwas Eigenes daraus zu machen.” Dort schrieb sie selber auch Texte, machte bei Filmprojekten mit.
Weibliche Sozialisation und ihre Fallstricke
In Cottbus studierte sie Soziale Arbeit, ging dann 2018 nach Leipzig. „Ich wollte in eine größere Stadt, aber in der Nähe meiner Familie bleiben”, sagt sie. In Leipzig betreute sie in einer Einrichtung für die Inobhutnahme minderjähriger geflüchteter Jungen, später kam noch eine Wohngruppe mit geflüchteten Mädchen dazu. „Das war zum Teil sehr hart”, so Thomas.
„Ich dachte viel über Sozialisation nach, vor allem weibliche Sozialisation und ihre Fallstricke”, erklärt sie. „Ich bin selbst als Frau aufgewachsen, habe Freundinnen, Schwestern.” Irgendwann habe sie nicht mehr schlafen können vor Wut und Trauer über das, was Frauen passiere, was sie aus ihrem Umfeld hörte oder in den Nachrichten über Femizide lese. „Das ist einfach so schlimm, so ungehörig und unfassbar.” Sie fing an, dazu zu recherchieren und zu schreiben.
Von der sozialen Arbeit ins Literaturinstitut
Dann passierte etwas, das selbst fast wie Fiktion klingt: Als sie eine neue Mitbewohnerin für ihre WG sucht, meldete sich Charlotte Gneuß. „Sie hatte auch Soziale Arbeit studiert und war nun am Literaturinstitut, das faszinierte mich sehr”, so Thomas. Gneuß wurde nach der Veröffentlichung mehrfach für ihrem Debütroman „Gittersee” ausgezeichnet. Sie ermutigte Ruth-Maria Thomas, sich am Literaturinstitut zu bewerben. „Ich hatte davon gehört, aber es war für mich ein entferntes, magisches Hogwarts – nichts für jemanden wie mich”, erinnert sie sich. Doch sie bestand die Aufnahmeprüfung und im Wintersemester 2019 ging es los.
„Ich nahm alles Wissen mit, was ich konnte und lernte nicht nur handwerklich viel, sondern auch über mich selbst”, sagt sie über den Studiengang Literarisches Schreiben, den sie im Sommersemester abgeschlossen hat – nachdem ihr Debütroman bereits zum Erfolg avanciert ist. Im Studium übe man, das Leben aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. „Für mich war es welterhellend”, sagt sie. Das Studium am Literaturinstitut habe auch den großen Vorteil, dass es sehr gute Vernetzungsmöglichkeiten biete: mit Dozierenden, dem Literaturbetrieb, der Literaturszene.
Erfahrungswelt der Millennials in Nahaufnahme
Der Roman „Die schönste Version” geht der Protagonistin Jella nach, die sich nach der großen Liebe mit Yannick eines Tages fragen muss, wie es dazu kam, dass er gewalttätig wurde und sie würgte. Was hatte sie übersehen? Detailreich und teils drastisch lässt Jella ihre Jugend zwischen den 90er und den Nuller-, Zehnerjahren Revue passieren, spart nichts aus. Dabei geht es auch um die Grautöne in Beziehungen. Ruth-Maria Thomas: „Jella fühlt sich nicht als Opfer. Sie und Jannick liebten einander doch vermeidlich. Sie relativiert und verdrängt, erzählt immer die schönste Version der Beziehung.” Bis es nicht mehr geht.
Während ihres Studiums veröffentlichte Thomas auch weitere Texte, die sich um Klasse, gesellschaftliche Konditionierung und häusliche Gewalt drehen. Dazu zählen unter anderem die Kurzgeschichte „Glitzer” sowie ein Radio-Essay über toxische Beziehungen für den SWR. Ihr Debüt-Roman reiht sich somit in eine Kette literarischer Arbeiten ein.
„Ich habe mich wiedererkannt“
Die Reaktionen der Leser:innen geben den begeisterten Rezensionen Recht: „Letztens in Cottbus lag ich mir mit Frauen in den Armen, die sagten, sie hätten sich im Buch selbst wiedererkannt”, berichtet die Autorin. Auch ein Mann sei zu ihr gekommen und habe ihr gedankt. Ganz bewusst liest sie an den Orten ihrer eigenen Prägung. Die Altersgruppen der Leser:innen seien sehr unterschiedlich. Leider seien trotzdem viel zu wenig Männer auf den Lesungen.
Trotz ihres Erfolgs will Ruth-Maria Thomas geerdet bleiben: „Ich freue mich auf jeden Fall sehr, aber ich weiß auch, dass das alles sofort wieder aufhören kann”, sagt sie. Aber vielleicht hört es nicht so schnell auf. Erst einmal sind weitere Lesungen und Pressetermine angesagt. Die Idee für den zweiten Roman verrät sie aber noch nicht.
Kommentare
Keine Kommentare gefunden!