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Drei Billionen Bäume auf unserer Erde decken rund ein Drittel der Landfläche des Planeten ab. Mit ihren Blättern, der Borke, den Ästen und Zweigen bilden ihre Baumkronen die größte biologische Schnittstelle zwischen Erdkruste und Atmosphäre. Die gesamte Blattoberfläche der Kronen ist mehr als doppelt so groß wie die Landfläche der Erde. Der Kronenraum bietet einen riesigen Lebensraum für andere Pflanzen, Tiere, Pilze und Mikroorganismen. Man könnte also meinen, dass dieser „Hotspot“ der Biodiversität bereits ausgiebig erforscht wurde. Tatsächlich jedoch stellte die Höhe der Baumwipfel die Wissenschaft lange vor Herausforderungen – insbesondere, wenn es um die Untersuchung der Kleinsten unter den Lebewesen geht.

Hier setzt das Forschungsprojekt micDiv an. micDiv steht für microbial diversity (mikrobielle Vielfalt) und wurde von 2018 bis 2024 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) durchgeführt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Schlegel von der Universität Leipzig und Prof. Dr. Michael Bonkowski von der Universität Köln beprobte und analysierte das Team mit moderner Technik und molekularen Methoden Baumwipfel im Leipziger Auwald sowie in Papua-Neuguinea. Ziel war es, fehlendes Wissen über die Verbreitung der Mikroorganismen im Kronenraum zu generieren, sowohl für die gemäßigte als auch die tropische Klimazone. Dabei fanden die Forschenden nicht nur eine große Zahl unbekannter Arten, sondern auch Verteilungsmuster, mit welchen sie nicht gerechnet hatten.

Zur Untersuchung des Kronenraums der gemäßigten Klimazone kam der Leipziger Auwaldkran zum Einsatz, ein 33 Meter hoher Turmdrehkran inmitten des Auwaldes, der seit 2014 als Forschungsplattform von iDiv fungiert. Der Kran, welcher auf einer 120 Meter langen Schiene verläuft, verfügt über einen um 360 Grad schwenkbaren Arm mit einer kleinen Gondel. Von dieser aus wurden systematisch Proben des Kronendachs gesammelt.

In den Proben identifizierten die Forschenden Protisten. Das sind winzige Eukaryoten – also einzellige Lebewesen mit einem Zellkern, in dem die Erbinformationen gespeichert sind. Zu den Protisten gehören unter anderem kleine Algen, Amöben und andere winzige Organismen. Sie stellen eine evolutionär alte Gruppe dar, aus der alle heutigen Vielzeller wie Tiere, Pilze und Pflanzen hervorgegangen sind. Obwohl sie mikroskopisch klein sind, spielen sie eine große Rolle im Nahrungsnetz, indem sie andere Mikroorganismen fressen oder als Parasiten lebende Organismen angreifen und damit den Kreislauf von Nährstoffen in der Natur antreiben.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Stefan Schaffer und Jule Freudenthal stehen in der Gondel des Auwaldkrans
Stefan Schaffer und Jule Freudenthal (Universität Köln) beim Probensammeln in der Gondel des Auwaldkrans. Foto: Michael Bonkowski

Protisten sind sehr vielfältig in Aufbau und Form, außerdem überall zu finden: im Boden, auf Blättern und in der Luft. Um die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaften zu untersuchen und die Funktionen der Protisten zu erforschen, verwendeten die Forschenden die Methoden Metabarcoding und Metatranskriptomik, die wie ein genetischer Detektiv funktionieren:

Beim Metabarcoding wird aus den gesammelten Proben die Erbsubstanz (DNA) extrahiert und gereinigt – als würde man Beweise von einem Tatort sicherstellen. Um gezielt nach den „Verdächtigen“, den Protisten, zu suchen, wird die Polymerase-Kettenreaktion eingesetzt. Dabei kommen sogenannte Primer zum Einsatz. Das sind kurze DNA-Abschnitte, die wie Spürhunde nur die gesuchte Protisten-DNA finden und sich gezielt daran binden. Für die beiden untersuchten Hauptgruppen, Cercozoa und Oomycota (Eipilze), gibt es Primer, die nur an spezifische Erbgut-Fragmente andocken. Sobald die „Beweise“ gefunden sind, werden diese DNA-Abschnitte millionenfach vervielfältigt, damit sie besser lesbar sind. Anschließend erfolgt die Analyse im „forensischen Labor“: Mit Hilfe bioinformatischer Werkzeuge werden die Sequenzen mit Datenbanken abgeglichen, um die Identität der Protisten zu bestimmen. So lassen sich nicht nur die „Täter“ identifizieren, sondern auch ihre Häufigkeit und ihr Verbreitungsmuster entschlüsseln. Am Ende entsteht ein vollständiges Bild dieser beiden wichtigen Protisten-Gruppen in den Baumkronen.

Hohe Diversität je nach Habitat und Jahreszeit

In verschiedenen Teilprojekten wurde die Art-Zusammensetzung und -Häufigkeit der Protisten in mehreren Baumarten und Mikrohabitaten (Rinde, Blätter, Moos, Flechten und Baumlöcher) sowie im Boden und in der Luft untersucht. Die Ergebnisse zeigen eine hohe Diversität von Cercozoa und Oomycota, welche sich jedoch je nach Habitat und Jahreszeit unterscheidet.

Überraschenderweise stellte sich heraus, dass in der gemäßigten Zone die Protisten-Diversität in den Baumkronen genauso hoch ist wie im Boden, sich in ihrer Zusammensetzung jedoch deutlich unterscheidet. Diese Entdeckung widersprach den Erwartungen der Forschenden und hebt die Bedeutung der micDiv-Forschung hervor. Erwartungsgemäß fanden sich deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mikrohabitaten innerhalb der Baumkronen, welche oft größer waren als zwischen den Baumarten. Die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Mikrohabitate scheinen eine entscheidendere Rolle für die mikrobielle Besiedlung zu spielen als die Baumart.

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Jule Freudenthal beim Untersuchen der Laborproben.
Jule Freudenthal beim Untersuchen der Laborproben. Foto: Stefan Schaffer

Insgesamt konnten hunderte Gruppierungen mit ähnlicher Protisten-DNA, sogenannte Taxa, identifiziert werden, darunter zahlreiche bislang unbekannte Arten. Mehr als ein Achtel der gefundenen Oomyceten konnte keiner bekannten Art zugeordnet werden, in tropischen Baumkronen war sogar die Hälfte der gefundenen Oomyceten unbekannt. Baumkronen scheinen also ein bisher unterschätzter Lebensraum für die Artenvielfalt von Mikroorganismen zu sein – eine Erkenntnis, die besonders relevant ist, da Oomyceten oft wenig Beachtung finden, obwohl sie Krankheiten oder Waldsterben verursachen können. „Wir entdeckten zahlreiche Parasiten, die belegen, dass der Kronenraum ein bislang unentdeckter Lebensraum für parasitische Protisten ist – darunter Hyaloperonospora, ein falscher Mehltau, der erhebliche wirtschaftliche Schäden verursachen kann“, so Martin Schlegel.

Neben der Vielfalt an bestimmten Standorten untersuchten die Forschenden auch die Luftverbreitung von Protisten. Besonders im windigen Herbst wurden viele Protisten aus dem Wurzelbereich in den Baumkronen nachgewiesen, was darauf hindeutet, dass Baumkronen nicht nur als Lebensraum, sondern auch als Filter und Ausbreitungsweg für Mikroorganismen fungieren. Interessanterweise konnten viele Protisten-Arten sowohl in Bodennähe als auch in den Baumkronen nachgewiesen werden – obwohl sich die Verhältnisse der Arten in Boden- und Kronenproben sehr stark unterschieden. Protisten scheinen sich also leicht durch die Luft zu verteilen und im gesamten Wald zu zirkulieren.

Neue Methoden mit viel Potenzial

Mit ihren Metatranskriptom-Analysen, bei denen nicht nur die DNA, sondern auch die RNA untersucht wurde, erfassten die Forschenden zusätzlich alle auf den Baumborken lebenden Mikroorganismen, mit und ohne Zellkern. Mit fast 1500 Gattungen konnten sie eine hohe Vielfalt nachweisen, verteilt auf drei Baumarten mit unterschiedlichen Borkenstrukturen (Eiche, Linde und Ahorn). In Bezug auf Cercozoa und Oomycota ergaben sich hohe Übereinstimmungen mit den Metabarcoding-Analysen. Diese Ergebnisse bestätigen das große Potenzial der noch neuen Methode. Damit konnte beispielsweise nachgewiesen werden, dass bestimmte Pilze Lebensgemeinschaften mit Algen eingehen, aus denen beide profitieren, also Flechten in mikroskopischer Größe.

Die micDiv-Untersuchungen zeigen neben methodischen Fortschritten, dass selbst in vermeintlich gut erforschten Wäldern noch zahlreiche verborgene Lebenswelten existieren, in denen winzige Organismen eine entscheidende Rolle spielen. Letztlich unterstreicht die Erforschung der Baumkronen, wie die kleinsten Lebewesen ein wesentlicher Bestandteil des großen ökologischen Puzzles sind, das unsere Wälder zu stabilen und funktionierenden Ökosystemen macht.

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