Welche Charakteristika sind typisch für niederländische Literatur und welche:n niederländische:n Schriftsteller:in lesen Sie am liebsten?
Prof. Dr. Barbara Schlücker: Es ist eine äußerst lebendige und vielstimmige Literaturlandschaft. Auseinandersetzungen mit der Kolonialvergangenheit, die Klimakrise, Flucht und Migration, Geschlechteridentität und Transition oder die Arbeitsbedingungen von Klickarbeitern sind nur einige der aktuellen politischen und kulturellen Bezüge. Obwohl oder vielleicht gerade weil die Niederlande und Flandern recht urbanisierte Länder sind, spielen viele Romane auf dem Land, das eine perfekte Bühne für große literarische Themen bietet, so beispielsweise bei Lize Spit, Gerbrand Bakker, Tommy Wieringa, Marieke Lucas Rijneveld, Mariken Heitman, und Franca Treur.
Zu meinen Lieblingsautor:innen gehört auf jeden Fall J.J. Voskuil, der zwischen 1996 und 2000 den siebenbändigen Monumentalroman Het Bureau (deutscher Titel: Das Büro) veröffentlicht hat, in dem er seine beruflichen und persönlichen Erfahrungen beim Instituut voor Dialectologie, Volks- en Naamkunde literarisch verarbeitet hat. Der Roman ist nicht zuletzt auch deshalb für mich als Sprachwissenschaftlerin sehr interessant, weil sich hinter diesem Institut, das im Roman anders heißt, in Wirklichkeit das Meertens Instituut in Amsterdam verbirgt, ein sehr renommiertes Forschungsinstitut für Sprach- und Kulturwissenschaften. Ganz toll finde ich auch die junge belgische Schriftstellerin Lize Spit. Ihr Debütroman Het smelt (deutscher Titel: Und es schmilzt) ist 2016 erschienen, 2020 folgte dann der zweite Roman Ik ben er niet (deutscher Titel: Ich bin nicht da).
Neues entdecken kann man übrigens auch mit dem deutschsprachigen Podcast Kopje Koffie, wo aktuelle Neuerscheinungen aus den Niederlanden und Flandern vorgestellt werden. Und natürlich bietet die Ringvorlesung, die für ein breites Publikum konzipiert ist, viele Anregungen!
Die Ringvorlesung bietet nicht nur Vorträge zur Literatur, sondern auch zu Sprache und Sprachwissenschaft. Was macht das Niederländische als sprachwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand so interessant?
Aus deutscher Sicht vielleicht zunächst die große Ähnlichkeit zwischen den Sprachen. Manchmal wird angenommen, dass das Niederländische ein Dialekt des Deutschen sei. Dem ist aber nicht so. Vielmehr haben beide Sprachen eine gemeinsame Vorstufe, das Germanische, aus dem sie sich – neben weiteren Sprachen, wie zum Beispiel das Englische – parallel entwickelt haben. Interessant ist auch, dass das Niederländische nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Belgien, das heißt in Flandern, sowie in Suriname und auf einigen karibischen Inseln gesprochen wird. Es ist daher eine sogenannte plurizentrische Sprache, das heißt eine Sprache mit mehreren nationalen Varietäten, die sich in ihrer Grammatik, ihrem Wortschatz und ihrer Aussprache unterscheiden – ähnlich wie auch das Deutsche in Deutschland, Österreich, der Schweiz etcetera. Diese Varietäten und ihre Verwendung sind auch durch die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Ländern beeinflusst. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die Rolle des Englischen und ihr Einfluss auf die Entwicklung und die Position des Niederländischen zu sehen, denn das Englische spielt besonders in den Niederlanden eine sehr wichtige Rolle, was sich unter anderem darin zeigt, dass es Unterrichtssprache zahlreicher universitärer Studiengänge und die Sprache der internen Kommunikation vieler Unternehmen ist. Diese und weitere Zusammenhänge werden auch in den beiden sprachwissenschaftlichen Vorträge der Ringvorlesung beleuchtet.
Wie wird Literatur aus den Niederlanden in Deutschland aufgenommen?
Das Interesse in Deutschland ist viel größer als in Frankreich, Großbritannien oder den USA. Jedes Jahr erscheinen etwa 100 Titel in deutscher Übersetzung. 2016, dem Jahr des Gastlandauftritts bei der Frankfurter Buchmesse, waren es sogar über 250 Titel und auch für die Leipziger Buchmesse 2024 zeichnet sich eine deutliche Steigerung der Zahl der Übersetzungen ab. Für die niederländischsprachige Literatur ist der deutsche Markt so etwas wie ein internationales Sprungbrett. Viele Titel und Werke sind auch hierzulande bekannt, zum Beispiel Maarten ‘t Hart mit seiner autobiografischen Aufarbeitung des Calvinismus oder neuerdings Mathijs Deen mit spannenden Krimis, die in Norddeutschland spielen. Auch illustrierte Kinderbücher, zum Beispiel die Yasmina-Reihe des flämischen Künstlers Wauter Mannaert, Graphic Novels und Lyrik werden übersetzt. In den letzten Jahren haben auch mehrere nicht-binäre Personen mit großem Erfolg debütiert, zu den bekanntesten gehören Tobi Lakmaker und Marieke Lucas Rijneveld. Beliebt sind schließlich auch autobiografische Werke von Autor:innen mit Migrationshintergrund, oft mit postkolonialen Bezügen, sowohl in den Niederlanden, hier oft mit Bezug zu Suriname oder Indonesien, als auch in Belgien, hier mit Bezug zum Kongo oder Rwanda.
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