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Seit Jahrzehnten verbindet das Herder-Institut der Universität Leipzig eine Partnerschaft mit dem Lehrstuhl für germanische Philologie und Translation der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew (TSU). Als der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 begann, setzten sich in Leipzig umgehend viele Hebel in Bewegung, um ukrainischen Lehrkräften und Studierenden die bestmögliche Unterstützung zu geben: mit Erfolg.

Eine Woche lang hatte die Germanistikdozentin und Dolmetscherin Dr. Daria Kasianenko mit ihrer Familie in Kiew ausgeharrt, welches über Nacht zum Kriegsgebiet geworden war. Sie hatte gesehen, wie Nachbarn ihre Autos beluden und aus der Stadt flüchteten. Sie selbst waren sicherheitshalber auf ihre Datscha gefahren. Diese liegt 50 Kilometer außerhalb von Kiew auf einem Hügel mit Blick auf Butscha – jenen Ort, den die Welt inzwischen mit schrecklichen Kriegsverbrechen in Verbindung bringt. „Wir hofften, dort würde es ruhiger sein.“ Doch schnell war klar, dass dies nicht so war. „Wir haben es mit unseren eigenen Augen gesehen“, sagt Kasianenko per Zoom aus Berlin, wo sie inzwischen mit ihren beiden Kindern wohnt, in der Zweitwohnung eines Lufthansa-Piloten. Den Kontakt vermittelte eine befreundete Stewardess. „Gott sei Dank haben wir es geschafft, aus Kyjiw und der Ukraine herauszukommen – nachts in einem übervollen Zug, der wegen der Raketenangriffe im Dunkeln fuhr“, sagt sie. „Die Unterstützung und die Menschlichkeit, die wir in Deutschland erfahren haben, erscheint uns unglaublich, und dass auch alles so schnell geklappt hat. Insbesondere der Universität Leipzig möchte ich sehr danken.“ Von Berlin aus, wo ihr Sohn in die Schule und ihre Tochter in die Kita gehen, arbeitet sie projektweise – vermittelt über das Herder-Institut – mit dem Institut für Linguistik und Angewandte Translatologie (IALT) der Universität Leipzig zusammen. Ende des Sommersemesters war sie bereits Prüferin für die Modulprüfungen im Fachdolmetschen III.

Die ersten Wochen erhielt Dr. Daria Kasianenko, die zur Übersetzung der gesetzgebenden Akten der EU promoviert hat, ein Erasmus-Stipendium. Anschließend bekam sie, wie drei weitere Kolleginnen, Unterstützung vom Dekanat über eine Gastvereinbarung der Philologischen Fakultät in Leipzig mit der TSU. In Kiew lehrt sie parallel online, hat sogar Stunden von Kolleg:innen übernommen, die die TSU gänzlich verlassen haben.

Lehrbetrieb geht planmäßig weiter

Auch wenn der Unibetrieb sehr stark durch den Krieg behindert wird, geht die Lehre online weiter – das heißt, wenn es Strom und eine Internetverbindung gibt und nicht gerade Raketen einschlagen. „Zwei Wochen nach Kriegsbeginn hatten wir alles auf online umgestellt und ab dem Moment hielten wir uns an unseren Zeitplan“, so die Dozentin. Das heißt: Im Juni fanden wie gewohnt die Prüfungen statt, derzeit laufen die Vorbereitungen für die Winterprüfungen. Hierzu wurde sogar die Prüfungsordnung angepasst: „Wenn die Prüfung wegen eines Raketenangriffs unterbrochen werden muss, bekommen Prüflinge nach ihrer Rückkehr aus dem Luftschutzkeller eine andere Aufgabe“, so Kasianenko. Das akademische Niveau solle nicht leiden. „Wir setzen unsere Arbeit fort und arbeiten an unserer Front – an der Front der Wissenschaft und Bildung.“ Das am 10. Oktober schwer beschädigte Universitätsgebäude wurde inzwischen neu verglast.

Perspektiven ermöglichen

 „Damals im März ging es einfach darum, Hilfe zu leisten, um Leute aus der Ukraine herauszuholen und dann, Perspektiven zu schaffen“, sagt Prof. Dr. Claus Altmayer, Lehrstuhlinhaber für Deutsch als Fremdsprache mit Schwerpunkt Kulturstudien. „Durch die langjährige Institutspartnerschaft war bereits ein aktives Netzwerk vorhanden“, so Altmayer, der selbst Anfang der 90er Jahre im zunächst noch sowjetischen, später lettischen Riga lehrte. Julia Wolbergs, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Herder-Institut und Koordinatorin der Erasmus-Partnerschaft mit der TSU, ergänzt: „Sonst hätten wir nicht so schnell handeln können. Anders als sonst, wo wir Aufenthalte langfristig vorbereiten, war umgehende Hilfe gefragt“. Sie sei „sehr dankbar für die verschiedenen Institutionen, die wir an der Universität Leipzig haben, aber auch persönlich für die Kolleg:innen hier am Herder-Institut, vom Sekretariat, über den Mittelbau, zu den Professor:innen, die Unterkünfte bereitgestellt und Erstausstattungen für Wohnungen zusammengestellt haben“, so Wolbergs. Dreh- und Angelpunkt in Kiew und Ansprechpartnerin für die Koordination der Unterstützung ist Prof. Dr. Maria Ivanytska, die stellvertretenden Germanistik-Lehrstuhlleiterin der TSU.

Eine Kollegin der TSU ist inzwischen an einem Gymnasium in Gotha angestellt, andere haben andere Kontakte genutzt, um nach Deutschland oder andere Länder zu kommen.

Weitere fachliche Perspektiven und Vernetzung soll eine Konferenz im Februar bringen, die hybrid stattfinden wird, damit sich männliche Kollegen aus der Ukraine online zuschalten können. Denn die meisten von ihnen können das Land nicht verlassen, damit sie bei Bedarf zur Armee eingezogen werden können.

„Schon seit einiger Zeit steht die Idee im Raum, auch gemeinsame Studiengänge im Bereich Deutsch als Fremdsprache mit der TSU anzubieten, was aber im Moment aus verschiedenen Gründen nicht realistisch ist. Derzeit geht es eher darum, eventuell von Leipzig aus Online-Lehrveranstaltungen im Rahmen der Partnerschaft zu übernehmen“, sagt Prof. Dr. Claus Altmayer.

Studierende leisten wertvolle Übersetzungshilfe

Die Universität Leipzig hat zudem neun Studentinnen ein Erasmus+-Stipendium für das Sommersemester 2022 am Herder-Institut gewährt, vier davon haben sich entschieden, auch das Wintersemester über das Agricola-Stipendium des Studentenwerks hier zu verbringen.

Marharyta Hnativska ist eine von ihnen. Sie studiert Übersetzen und Dolmetschen an der TSU und belegt Module für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache am Herder-Institut. Sie habe schon immer Interesse daran gehabt, Dolmetscherin zu werden, „aber erst hier ist mir klar geworden, wie wichtig die Sprachvermittlung ist.“ Sie dolmetscht für Geflüchtete aus der Ukraine, wie beispielsweise bei Arztbesuchen. Wenn sie ihren Bachelor von der TSU in der Tasche hat, will sie einen Master dranhängen – sie weiß noch nicht, ob in Leipzig oder Kiew.

Oleksandra Nazarova ist derzeit im 7. Semester. Auch sie studiert Germanistik und Übersetzen an der TSU sowie derzeit Deutsch als Fremd- und Zweitsprache am Herder-Institut. Auch sie setzt ihre Sprachkenntnisse intensiv ein: An einer Leipziger Schule übersetzt sie nebenberuflich und bringt ukrainischen Kindern grundlegende Deutschkenntnisse bei. „Das ist eine gute Erfahrung“, sagt sie. Eigentlich wollte sie im April nicht das Land verlassen. Ihre Eltern sagten aber: „Mach das! Es wird gut für dich sein.“

Kommentare

  • Olena Opanasenko,

    Einen herzlichen Dank allen Kollegen der Leipziger Universität, die Ihren Beitrag geleistet haben, damit ukrainische Professoren und ihre Student*innen beim Studienprozess zur Normalität zurückkehren konnten und durften.
    Mit herzlichen Grüßen
    Olena Opanasenko

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