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Der Angriff Russlands auf die Ukraine und seine Auswirkungen haben auch an der Universität Leipzig das Jahr 2022 geprägt: Private Hilfsinitiativen von Universitätsangehörigen, Spendensammlungen, die Beratung aus der Ukraine geflüchteter Studierender, das Anbieten von Sprachkursen, die Organisation ukrainischer Hochschulzulassungstests und nicht zuletzt der verstärkte Fokus auf Forschung und Lehre in der Ukrainistik haben das universitäre Leben beeinflusst. Und auch 2023 wird die Koordinierungsgruppe Ukraine den Überblick über die Aktivitäten an der Universität im Bezug auf die Entwicklungen in der Ukraine behalten. Geleitet wird die seit April 2022 bestehende Koordinierungsgruppe von Prof. Dr. Matthias Middell, Prorektor für Campusentwicklung: Kooperation und Internationalisierung. Im Interview mit dem Universitätsmagazin zieht er eine Zwischenbilanz und blickt auf 2023 voraus.

Herr Professor Middell, es gab in diesem Jahr eine Vielzahl an Initiativen, Projekten, Informationsveranstaltungen an unserer Universität. Können Sie zusammenfassen, was die Universität als Einrichtung in diesem Jahr geleistet hat?

Prof. Dr. Matthias Middell: Es war wirklich eine ganz beeindruckende Vielfalt von Initiativen verschiedener Einrichtungen und vieler Personen, denen großer Dank gebührt. Bevor wir im April in das Rektorat gewählt worden sind, wurde bereits die sogenannte Task Force Ukrainehilfe unter Leitung des damaligen Prorektors Prof. Hofsäss gegründet. Es gab schon sehr früh im Februar und März Bemühungen, etwa Angebote für Sprachkurse, für Studienvorbereitungen und Immatrikulationen sowie Angebote für geflüchtete Wissenschaftler:innen – Dinge, bei denen die Universität in besonderer Weise gefordert ist. Es gab und gibt ein sehr großes Engagement im Bereich des Empfangs und der Beratung von Studierwilligen, bereits Studierenden und neuen Studienbewerber:innen. Wir haben diese aus der Not heraus entstandene Task Force in eine reguläre Struktur überführt, wobei uns der Gedanke geleitet hat, dass wir in diesem Jahr ganz besonders durch den Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat, gefordert sind, dass es aber eigentlich eine darüber hinausgehende Aufgabe ist, die Universität reaktionsfähig zu machen im Hinblick auf vergleichbare Krisen und ihre Folgen, etwa in Form von Fluchtbewegungen. Diese Arbeitsgruppe führt verschiedene Bereiche zusammen, Studienvorbereitung und Studienorganisation, Studentenwerk, Forschung und Bemühungen um Gastwissenschaftler:innen, Kommunikation und strategische Überlegungen zur weiteren Internationalisierung sowie die Kontakte zur Politik und den Förderorganisationen.

Eine überraschende und unter der Leitung von Prorektor Prof. Gläser sehr gut bewältigte Aufgabe war, die diesjährigen ukrainischen Studienzugangsprüfungen, die in der Ukraine so nicht stattfinden konnten, für Geflüchtete zu organisieren, abzusichern und auch die Ergebnisse zu kommunizieren. Im Bereich Forschungszusammenarbeit gab es Einladungen an Wissenschaftler:innen und Aufenthalte von Gastwissenschaftler:innen sowie Bemühungen, gemeinsam Forschungsanträge zu generieren und neue Themen zu setzen. Im Rahmen des Gastprofessorinnenprogramms der Landesrektorenkonferenz konnten wir die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Dr. Anna Gaidash als erste ukrainische Gastprofessorin ans Institut für Slavistik holen. Eine wichtige Initiative von Frau Prof. Bachmann aus der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät waren auch die „Chance for Science“-Konferenzen, bei denen es darum geht, Beziehungen mit ukrainischen Hochschul- und Forschungseinrichtungen zu knüpfen. Derselben Idee folgend hat sich die Arqus-Allianz für die Mohyla-Akademie der Nationalen Universität in Kiew geöffnet. Das ist eine Einrichtung, die aus einer früher eher marginalen Position als liberale Hochschuleinrichtung heraus nun zu einer sehr wichtigen Ausbildungseinrichtung in der Ukraine geworden ist und als assoziierter Partner von Arqus das Programm der Allianz mit prägen wird. Die Allianz ist damit in der Lage, aus erster Hand aufzunehmen, was in der Ukraine benötigt wird und zugleich den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen Hilfestellung zu geben, ihren Platz in einer europäischen Hochschulallianz zu planen.

Ein Problem, das leider noch nicht gelöst ist, ist das Bleiberecht der sogenannten Drittstaatenstudierenden.

Prof. Dr. Matthias Middell

Eine zentrale Herausforderung bestand und besteht weiterhin auch darin, die benötigten Ressourcen sicherzustellen. Es war sehr früh klar, dass viele Maßnahmen, die wir in diesem Jahr ergriffen haben, nur kurzfristig finanziert sind und es gegen Ende des Jahres in verschiedener Hinsicht schwierig werden könnte. Die gute Nachricht ist, dass viele Stipendien- und Sprachprogramme weitergeführt werden konnten, obwohl der DAAD zunächst von erheblichen Kürzungen bedroht war: Ukrainische Studienbewerber:innen können weiterhin Sprachkurse belegen, auch Gastwissenschaftler:innen können wir mit Hilfe von Stipendien im kommenden Jahr bei uns begrüßen.

Ein Problem, das leider noch nicht gelöst ist, ist das Bleiberecht der sogenannten Drittstaatenstudierenden, die in der Ukraine ein Studium aufgenommen hatten, dann nach Deutschland geflüchtet sind und deren Aufenthaltsstatus hier ungeklärt ist, weil ihre Herkunftsländer nicht als nach dem Asylrecht unsichere Staaten gelten.

Wie kann die Universität solchen Menschen helfen, beziehungsweise was braucht es seitens der Politik?

Prof. Middell: Das Problem ist, dass im Unterschied zu den ukrainischen Studierenden oder Studienbewerbern für diese Gruppe das ganz normale Ausländerrecht gilt. Sie müssen sich, um in Deutschland bleiben zu können, entweder um ein Studium bewerben oder Asyl beantragen. Kommt beides nicht in Frage, müssen sie nach einer Frist und nach Prüfung ihres Anliegens unser Land verlassen. Sie sind ja in der Regel nicht aus Verfolgungsgründen in die Ukraine gegangen, um dort zu studieren, sondern um Bildung zu erwerben.

… für ein normales Auslandsstudium.

Prof. Middell: ... ein Auslandsstudium in Fächern, die hochattraktiv sind, wie etwa Medizin, und die hier in Deutschland mit einem strengen NC belegt sind. Das Ergebnis ist, dass diese Studierenden in Deutschland nicht automatisch ein Medizinstudium aufnehmen bzw. fortsetzen können. Jetzt sitzen sie da zwischen der Ablehnung ihres Studienantrages und dem faktisch nicht bestehenden Asylgrund. Und damit sind sie eigentlich ein Fall für eine Ausweisung. Wir bemühen uns schon seit langem gegenüber der Politik, dass für diese Gruppe spezifische Regelungen getroffen werden, denn sie sind ja völlig unverschuldet in diese Situation gekommen und ebenfalls Opfer des Krieges. Das ist in einigen Bundesländern schon gelungen, beispielsweise in Hamburg, Bremen und Berlin, aber in den Flächenländern noch nicht.

Das heißt, in Sachsen konnte diesen Menschen noch nicht geholfen werden?

Prof. Middell: So ist es. Ich vermute, dass einige von diesen Studierwilligen erkannt haben, dass es für sie in anderen Bundesländern eine günstigere Möglichkeit zum Bleiben gibt. Das ist eine Härte in Sachsen, bei der die Universität zunächst nicht helfen kann, außer, indem sie auf das politische Problem aufmerksam macht. Das haben wir sehr nachdrücklich getan, sind aber zunächst auf Ablehnung gestoßen. Das muss man ganz offen so sagen.

Wie schnell die Ukraine es unter Kriegsbedingungen geschafft hat, einen Teil ihres Studiums eben online weiter zu betreiben, war sehr beeindruckend.

Prof. Dr. Matthias Middell

Der Lehr- und Forschungsbetrieb geht an vielen ukrainischen Hochschulen trotz des Krieges online weiter, auch mit Studierenden oder Wissenschaftler:innen, die sich im Ausland aufhalten. Wie kann die Universität Leipzig Vernetzungsmöglichkeiten für ukrainische Hochschulen und Wissenschaftler:innen schaffen, um besser an Hochschulen in Deutschland und  Europa insgesamt angebunden zu sein?

Prof. Middell: Wir haben zum einen die institutionelle und zum anderen die persönliche Dimension. Wenn zum Teil die Stromversorgung zusammengebrochen ist, ist natürlich auch kein Online-Unterricht mehr möglich. Aber wir unterstützen Kompetenzaufbau in jeder Hinsicht, indem wir Lehrangebote unterbreiten oder Gasteinladungen aussprechen, damit Lehrende bei uns lernen, wie man das Studium noch direkter an die Standards anderer Länder anbinden kann. Aber auch wir können etwas von ihnen lernen: Die Digitalisierung ist in der Ukraine weiter fortgeschritten als bei uns. Das muss man neidlos anerkennen. Wie schnell die Ukraine es unter Kriegsbedingungen geschafft hat, einen Teil ihres Studiums eben online weiter zu betreiben, war sehr beeindruckend.

Und dann geht es um die vielen, vielen persönlichen Kontakte, die einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unserer Universität zu Kolleg:innen haben. Wir müssen als Institution sehen, welche  Beziehungen so dicht sind und wo das Potential besteht, daraus eine institutionelle Partnerschaft zu entwickeln. Das Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) beispielsweise arbeitet sehr intensiv mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen. Sie haben eine große Zahl an Gastwissenschaftler:innen nach Leipzig geholt und haben auch bei der Erneuerung des Curriculums sowie der Entwicklung der Forschungsaktivitäten bezüglich der Ukraine Bemerkenswertes geleistet.

Eine große Bedeutung kam und kommt bezüglich der Ereignisse in der Ukraine dem Institut für Slavistik zu, bei der wissenschaftlichen Expertise, aber auch der Ausbildung, wie der Ukrainisch-Sprachkurse. Wie bildet sich das momentan in der Ausstattung des Instituts ab, beziehungsweise wie wird sich das abbilden?

Prof. Middell: Zunächst mal bin ich sehr dankbar, dass die Kolleg:innen im Institut, vor allen Dingen Frau Prof. Artwinska und auch Herr Prof. Rohdewald im Historischen Seminar, die Initiative für die Ringvorlesung zur Literatur, Kultur und Geschichte der Ukraine ergriffen haben. Wir hatten bereits intensive Beziehungen mit der Ukraine, aber das heißt nicht, dass alle an der Universität ausreichend über die ukrainischen Verhältnisse oder auch die Gründe für den Krieg informiert waren. Diese Initiative war sehr wichtig und hat auch den zweiten Zweck sehr erfolgreich verfolgt, mit ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Kontakt zu stehen, die in dieser Ringvorlesung vorgetragen haben.

Wir müssen abwägen, wie wir priorisieren. Unsere Ressourcen wachsen nicht, nur weil mehr Aufgaben da sind.

Prof. Dr. Matthias Middell

Für die Zukunft überlegen wir, welche Rolle das Ukrainische als Sprache und die ukrainische Landeskunde, jede Art von Wissen über Geschichte und Gegenwart der Ukraine, in unserem Curriculum spielen soll. Bislang spielte das Ukrainische bei der Ausbildung von Lehramtskandidat:innen eine weniger wichtige Rolle. Ob sich das ändern wird, müssen wir abwarten. Aber wir haben jetzt eine hohe Präsenz von Ukrainischsprechenden bei uns im Land: Ukrainische Schülerinnen und Schüler brauchen eine Ausbildung. Die Ukraine wird, nach allem was sich absehen lässt, näher an die EU heranrücken, vielleicht auch Mitglied der EU werden. Sie wird für uns viel direkter ein Nachbar werden, als das bisher er Fall war. Sie hat einen hohen Bedarf an Wiederaufbau der Infrastruktur, der Wirtschaft. Die Beziehungen werden ganz sicher intensiver. Wir werden dafür Menschen brauchen, die Ukrainisch beherrschen. Es kann durchaus sein, dass einzelne Schulen in Deutschland so ausgestattet werden, dass sie Ukrainisch als Schulfach anbieten. Das hätte sofort Konsequenzen für unsere Universität. Darüber sind wir im Gespräch. Aber bisher sind dazu keine Entscheidungen gefallen.

Mit wem sind Sie dazu im Gespräch?

Prof. Middell: Zunächst mit der Philologischen Fakultät, denn es würde bedeuten, dass andere Fächer, andere Sprachen, möglicherweise im Umfang an Bedeutung verlieren. Wir müssen abwägen, wie wir priorisieren. Unsere Ressourcen wachsen nicht, nur weil mehr Aufgaben da sind.

Sie hatten bereits die Willkommenskultur angesprochen. Dabei ist die Stabsstelle Internationales mit ihren Beratungsleistungen erster Anlaufpunkt und auch das Studentenwerk. Die Koordinierungsgruppe ist nun institutionalisiert, damit die Universität handlungsfähig und auch für kommende globale Krisen gewappnet ist. Sehen Sie die Universität strukturell gut aufgestellt und vorbereitet, um Krisen zu bewältigen?

Prof. Middell: Ihre Frage ist deshalb nicht ganz einfach, weil ich glaube, dass es zu den Aufgaben einer Universität wie der unseren gehört, mit solchen Krisen umzugehen. Es wäre verwunderlich, wenn wir eine Schönwetterinstitution wären, die bei Krisen sofort zusätzliche Ressourcen braucht. Ich sehe die Arbeit in dieser Koordinierungsgruppe als einen Beleg dafür, dass wir über Kompetenzen beispielsweise in der Willkommenskultur, in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, in der Ausbildung, in der Betreuung durch das Studentenwerk verfügen und sie für die konkreten Aufgaben bündeln müssen. Wenn sich die Aufgaben ändern, müssen diese Kompetenzen wieder neu ausgerichtet werden. Ich halte aber nichts davon, bei jeder Aufgabe erst mal zu rufen: Wir brauchen mehr Ressourcen, und erst wenn diese Ressourcen da sind, können wir überhaupt anfangen zu arbeiten. Das hat zum Glück dieses Jahr in dieser akuten Krise niemand getan, und ich denke, wir haben auch deshalb diese Krise bisher so gut bewältigt. Gleichzeitig erfordern Krisen dieses Ausmaßes, dass auch punktuell Aufgabenbereiche verstärkt werden müssen. Und dazu braucht es auch die Unterstützung der Politik, um die wir uns natürlich weiter bemühen. Aber grundsätzlich sind wir eine reaktionsfähige und kompetente Universität. Wir können stolz darauf sein.

Mein großer Dank gilt deshalb allen Mitarbeiter:innen der Universität und des Studentenwerks, die sich nachhaltig zur Bewältigung der Krise eingebracht haben und weiterhin einbringen. Insbesondere möchte ich den Mitarbeitenden in der Stabstelle Internationales, am Studienkolleg, in der Stabsstelle Universitätskommunikation, der akademischen Verwaltung und dem Studierendensekretariat, an der Philologischen und anderen Fakultäten danken und nicht zuletzt dem Studentenwerk.

Im Jahr 2022

  • haben sich 1136 aus der Ukraine Geflüchtete an die Universität Leipzig gewendet, um ein Studium aufzunehmen
  • haben sich 1830 aus der Ukraine Geflüchtete an die Universität Leipzig gewendet, um ein Studium fortzusetzen
  • haben sich 259 aus der Ukraine Geflüchtete an der Universität Leipzig für einen Sprachkurs angemeldet
  • möchten 358 aus der Ukraine Geflüchtete einen Deutsch-Sprachkurs belegen

Stand: 7.12.2022

 

Weitere Informationen zu allen Themen rund um die Ukraine im Informationsportal Ukraine

 

Das Interview führte Ulf Walther

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