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Erich Kästner ist nicht wie andere wichtige Persönlichkeiten in Leipzig geboren oder gestorben. Er kam 1919 in die Stadt an der Pleiße, um Germanistik, Geschichte, Philosophie, Zeitungskunde und Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig zu studieren. Die Stadt, die Universität und die ersten schriftstellerischen Arbeiten prägten vor nunmehr 100 Jahren das weitere Leben Erich Kästners. Zu seinem 123. Geburtstag, den wir am 23. Februar feiern, berichtet darüber Dr. Sebastian Schmideler, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kinder- und Jugendliteratur an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät.

Auf welches Datum bezieht sich das 100-jährige Jubiläum "Kästner in Leipzig"?

Kästner war seit dem Wintersemester 1919/20 mit Unterbrechungen in Leipzig. Fest steht: Kästner hat vor einhundert Jahren an dieser Universität studiert. Wichtigster Grund dafür war, dass sein „Goldenes Stipendium“ der Stadt Dresden, das er für sein hervorragendes Abitur am König-Georg-Reformgymnasium erhalten hatte, vorsah, ein Studium an der sehr angesehenen sächsischen Landesuniversität aufzunehmen. Leider war diese finanzielle Unterstützung wegen der Inflation bald so gut wie gar nichts mehr wert.

Wie muss man sich das Studium in Leipzig nach Kriegsende für den jungen Kästner vorstellen?

Jedenfalls nicht komfortabel. Was wir heute so schön „Work-Life-Balance“ nennen, war der Generation von Kästner nahezu unbekannt. Studiert wurde nachts. Außerhalb der Lehrveranstaltungen, die er fleißig besuchte, musste sich Kästner tagsüber mit allerlei Brotjobs herumschlagen, um sich finanziell über Wasser zu halten. Obwohl zwei seiner Onkel mütterlicherseits reich waren, kam er aus einem armen Elternhaus der Arbeiterschaft. Er war ein sozialer Aufsteiger und Ausnahmetalent – das war ungewöhnlich. Die meisten seiner überwiegend männlichen Kommilitonen stammten aus bürgerlichen Elternhäusern, wo Geld nicht immer eine Hauptrolle spielte. Sehr schnell fand er Zugang zu Künstlerkreisen, hatte selbst auch einen Hang zum Bohèmien, wurde als begabter junger Journalist entdeckt und gefördert und konnte sich in den Leipziger Zeitungen und Zeitschriften als journalistischer Schriftsteller austoben – übrigens auch (und lange vor dem Erfolgsroman „Emil und die Detektive“) mit Texten für Kinder.

Kästner wird als sehr ehrgeizig in Bezug auf seine Arbeit als Schriftsteller und Journalist in seiner Leipziger Zeit beschrieben, war da noch Platz für das studentische Leben neben dem Studium?

Zunächst einmal war in Kästners Leben vor allem viel Platz für sein „Muttchen“, seine Mutter Ida Kästner, zu der er eine enge Bindung hatte. Auch in seiner Leipziger Zeit schickte er ihr wöchentlich seine Wäsche und jeden Tag eine Karte. Kästner nahm als junger Journalist andererseits sehr aktiv am Leipziger Kulturleben teil – und schrieb darüber in allen Sparten, bis hin zur Kunstkritik; er hatte also Zugang zu gesellschaftlichen und politischen Ereignissen aller Art in der Stadt. Er besuchte Privattreffen bei seinem Doktorvater, war mit jungen Künstlern wie Erich Ohser (E.O. Plauen) befreundet, knüpfte Kontakte zu Leipziger Verlagen. Kästner ging da sehr strategisch vor, war einerseits ausgesprochen fleißig, literarisch ungewöhnlich begabt, auch sehr selbstbewusst und zweifellos ein bisschen karrieristisch. Das „studentische Leben“ stand für ihn wohl nicht im Mittelpunkt, jedenfalls nicht so, wie es heute zum common sense gehört. Es gab ja viel weniger Studierende als heute, der Studienbetrieb war elitärer und überschaubarer als gegenwärtig an einer doch ziemlich großen Universität mit vielen Tausenden von Studierenden.

Gibt es Lieblingsorte in Leipzig, die er als Student und Journalist besuchte?

Der Augustusplatz, wo er seine Mittagspause Zigaretten rauchend verbrachte. Das Café Felsche.

Kann man Kästner als „Tucholsky der Kinderliteratur“ bezeichnen?

Nein. Um es deutlich zu sagen: Der Vergleich hinkt doch sehr. Tucholsky war einer der besten und bekanntesten Journalisten und Schriftsteller der Weimarer Republik, aber sehr auf kleine Prosa und Gebrauchslyrik spezialisiert, mit Kinderliteratur hatte er nichts zu tun. Er war ein Meister der Satire. Kästners Werk ist formal viel umfangreicher und vielgestaltiger – vom gebrauchslyrischen Gedicht über Zeitungsprosa (hier trifft er sich mit Tucholsky), Romane für Kinder und „große Leute“, Erzählungen für Erwachsene, Filmdrehbücher, Theaterstücke, Radiorevuen ist alles dabei. Kästner war ein Talent der Verwertung seiner (kinderliterarischen) Stoffe im Medienverbund. Das war zu seiner Zeit eine große Novität. Was gern übersehen wird, ist, dass Kästners Kinderromane von Anfang an im Medienverbund distribuiert worden sind. Im Fall vom „Doppelten Lottchen“ ist der Bezug zum Film sogar der Ausgangspunkt von Kästners Kinderbuch. Kästner steht für sich und ist eigentlich unvergleichbar – und das wusste er auch stets sehr eindrucksvoll zu inszenieren. Er war der kinderliterarische Star der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit.

Wie haben die Universität Leipzig und Persönlichkeiten der Universität Kästner geprägt?

In Leipzig hat Kästner pointiert und lakonisch schreiben und scharf denken gelernt, so könnte man es zusammenfassen. Hier entwickelte er seinen unverwechselbaren Stil und wurde zu einem Mann der Mitte. Seine Moderatheit wird ihm oft zum Vorwurf gemacht, ist aber eine nachvollziehbare skeptische Grundhaltung gegenüber der Welt. Die Tatsache, dass Kästner hier in Leipzig promovierte, zeigt seine Verbundenheit mit der Universität. Er hatte hervorragende Lehrer wie den Literaturwissenschaftler Albert Köster, ein Goethe-Forscher und Theaterspezialist, der Kästners Begeisterung für die Bühne mit weckte, und wichtige Unterstützer wie Georg Witkowski, der nach Kösters Selbstmord seine Dissertation betreute – und hier gab es den Studiengang Zeitungskunde. Er verstand sich zeitlebens als gelehrter Schriftsteller („poeta doctus“), auch als ein Literaturhistoriker mit einem demokratischen Auftrag, aber er versteckte das gern hinter seinem scheinbar leicht eingängigen Stil. Seine Promotion war ihm wichtig und damit die Universität als intellektuelle Basis seines Schreibens und Denkens. Geprägt hat ihn aber genauso die Stadt Leipzig selbst, die er wohl auch ganz gern mochte. Aber es war klar: Kästners Talent konnte sich in der Weimarer Republik eigentlich nur in der Metropole Berlin entfalten, nicht in einer mitteldeutschen Bürgerstadt wie Leipzig. Doch Leipzig war damals das Zentrum der Buchkultur – das wusste er zu schätzen. Etwas Besseres als dieses Umfeld konnte ihm als Zwischenstation zwischen Dresden und Berlin eigentlich nicht passieren.

Welchen Abdruck hat Kästner in der Universität Leipzig hinterlassen?

Er hat auch über wichtige akademische Ereignisse wie die Antrittsvorlesung von Hermann August Korff, einem zentralen Vertreter der Forschung zur Literatur der Goethezeit, journalistisch berichtet. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten beeindruckte er seine akademischen Lehrer – noch als älterer Herr hat er die Leipziger Dissertation im Auszug in seine gesammelten Werke aufgenommen und sogar als Monografie in einem Wissenschaftsverlag veröffentlicht, was den erheblichen Stellenwert der Universität Leipzig in seiner Schriftstellerbiografie dokumentiert. In seinem Nachlass im Literaturarchiv in Marbach gibt es noch Hausarbeiten und anderes Material aus seiner Studienzeit. Ich denke, Kästner wäre auch ein guter Literaturprofessor geworden, aber das wäre ihm, einem schriftstellerisch multitalentierten Künstler, vielleicht viel zu einseitig gewesen.

Gibt es heute noch Orte in Leipzig, speziell an der Universität Leipzig, die an Kästner erinnern?

Das Universitätsarchiv bewahrt seine Promotionsakte auf. Der Augustusplatz und der Campus sind heute noch der Nucleus unserer Universität, an dem sich das Universitätsleben konzentriert. Nur: Wo heute die Wirtschaftswissenschaften beheimatet sind, war damals der Ort der Geisteswissenschaften, die ein sehr hohes Ansehen innerhalb der akademischen Struktur der Universität genossen. Kästners Erfolg ist auch ein bisschen der Erfolg dieser Blütezeit der Geisteswissenschaften dieser Jahre, die damals über Leipzig hinaus einen ausgezeichneten Ruf hatten.

Geben Sie den literarischen und journalistischen Geist Kästners an Ihre Studierenden weiter?

Mit dem „Geist“ ist das so eine Sache. Um die Frage sachlich zu beantworten, wie es Kästner schätzte: Kästner war ein Ausnahmetalent und konnte treffsicher formulieren. Man braucht gar nicht erst versuchen, das zu kopieren. Vorbild kann bis heute sein Mut sein, auch nach 1933, als seine Bücher verbrannt worden sind, an einer Kinderliteratur der Moderne im Dienst demokratischer Kultur festgehalten zu haben – unter sehr schweren Bedingungen in der sogenannten „inneren Emigration“. Heutige Studierende dürfen sich glücklich schätzen, dass ihnen solche „Bewährungsproben“ erspart bleiben. Bei Kästners Frauen- und Mädchenbild würde ich sagen, dass man hier durchaus kritisch sein muss und sein Werk einer Re-Lektüre bedarf. Diesen „Geist“ würde ich im Zeitalter der Gendersensibilität und political correctness nicht unbedingt weitergeben …

Wie aktuell ist Kästner heute noch für die Kinder- und Jugendliteratur?

Er bleibt einer der wichtigsten und international am meisten verbreiteten Kinderbuchautoren deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts. Daran gibt es auch 2022 nichts zu rütteln. Sein Name ist in aller Welt noch so bekannt wie ein bunter Hund. Manche Kinderbuchautoren, wie Andreas Steinhöfel, der gern auch als der „neue Kästner“ bezeichnet wird, haben sich durch Kästners Ästhetik für ihr eigenes Schreiben anregen lassen. Kästners Kinderbücher verkaufen sich nach wie vor gut, obwohl viele von ihnen in den nächsten Jahren einhundert Jahre alt werden. Aktuell bleibt er daher als eine Art Markenzeichen der Demokratie – in der Weimarer Republik ebenso wie in den 1950er- und 1960er-Jahren.

Wird Kästner heute noch von Kindern und Jugendlichen gelesen oder nur über filmische Adaptionen seiner Bücher (Emil und die Detektive, Das doppelte Lottchen, Das fliegende Klassenzimmer, Pünktchen und Anton) konsumiert?

Ja, das ist eine Tendenz, die sich nicht mehr aufhalten lässt. Das hat zwei Seiten: Einerseits können die heutigen Verfilmungen den kinderliterarischen Stoff für ein gegenwärtiges junges Publikum zielgerichtet aktualisieren. Andererseits gehen der Sprachwitz und der unverwechselbare Kästner-Ton verloren, wenn seine Bücher nicht mehr schwarz auf weiß gelesen werden. Kästner war auch als Kinderbuchautor ein Vertreter der literarischen Moderne. Das kann man eigentlich nur angemessen nachvollziehen, wenn man seine Bücher auch liest und ihn gerade in diesem Zusammenhang auch als gelehrten Schriftsteller ansieht. Er war einer von uns, weil er hier an dieser Universität wurde, was er bis heute ist: ein großes schriftstellerisches Talent, nicht nur als Kinderbuchautor.

 

  • Dr. Sebastian Schmideler ist Gründungsmitglied und erster Vorstandsvorsitzender des Fördervereins Erich Kästner Forschung e.V. und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kinder- und Jugendliteratur an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig.

 

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