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Der 10. Mai 1933 ging in die deutsche Geschichte als Tag der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten ein. Heutzutage gilt es, zum "Tag des Buches" für die Freiheit des Wortes einzutreten. Das Universitätsmagazin hat vier Sprachwissenschaftler:innen der Universität gefragt, welche Bücher sie geprägt haben, welche sie gerade lesen und welche Bücher wir unbedingt lesen sollten: Anna Artwińska ist seit Oktober 2016 Juniorprofessorin für Slawistische Literaturwissenschaft und Kulturstudien am Institut für Slavistik, Ralf Haekel ist seit April 2019 Professor für Britische Literaturwissenschaft am Institut für Anglistik, Anna Stemmann ist seit September 2021 Juniorprofessorin für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur am Institut für Germanistik und Jobst Welge ist seit April 2018 Professor für Romanische Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Hispanistik und Lusitanistik an der Universität Leipzig.

Was lesen Sie gerade?

JP Dr. Anna Artwińska: „Museum der vergessenen Geheimnisse“ der zeitgenössischen ukrainischen Autorin Oksana Zabužko, „Die Jakobsbücher“ der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und „Gedichte“ von Jana Černá, eine Femme fatale des tschechoslowakischen Untergrunds. Die deutsche Übersetzung ist gerade im Verlag Kētos erschienen. Ich lese immer parallel und habe damit wunderbare Erfahrung!

Prof. Dr. Ralf Haekel: Damon Galgut: „The Promise“, Gewinner des letztjährigen „Booker Prize“.

JP Dr. Anna Stemmann: Aktuell lese ich fast täglich in einem neuen Roman für die Juryarbeit zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Heute Julya Rabinowich mit „Dazwischen: Wir“.

Prof. Dr. Jobst Welge: Hamid Ismailov, „Wunderkind Erjan“ (2014). Das Buch spielt in der Steppe von Kasachstan. Der Autor ist in Kirgisistan geboren, in Usbekistan aufgewachsen, lebt in Großbritannien, schreibt auf Russisch. Ich lese es in einer spanischen Übersetzung. Die deutsche Übersetzung war für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

 

Was ist Ihr Lieblingsbuch?

Artwińska: Ich habe mehrere Lieblingsbücher. Das sind Texte, zu denen ich immer wieder zurückkehre. Und dies hängt von der Jahreszeit ab! Im Frühling ist „Das wüste Land“ von Thomas Eliot ein Muss. Lange Winterabende verbringe ich gern mit Thomas Manns  „Buddenbrooks“ Und im Sommer ist Bohumil Hrabals „Schöntrauer“ einfach unersetzlich!

Haekel: Eigentlich ist das unmöglich zu beantworten, da gibt es zu viele. Wenn ich mich festlegen muss, wäre es „To the Lighthouse“ von Virginia Woolf. Oder „Die Ausgewanderten“ von W.G. Sebald. Oder „Berliner Kindheit“ von Walter Benjamin.

Stemmann: Tamara Bach gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, weil sie es immer wieder schafft, neue erzählerische Formen zu finden und von all den Herausforderungen des Heranwachsens zu erzählen, ohne je oberflächlich zu werden. „Was vom Sommer übrig ist“ und „Vierzehn“ sind zwei meiner Lieblingstexte.

Welge: Als Literaturwissenschaftler und Vielleser ist das für mich eigentlich unbeantwortbar… Ein Lieblingsbuch: Giuseppe Tomasi di Lampedusa, „Der Leopard“ (1958).

 

Welches Buch sollte jede:r mal gelesen haben?

Artwińska: „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir. Obwohl es 1951 erschienen ist, hat es immer noch ein revolutionäres Potenzial. Es geht hier nicht nur um die geschlechterspezifische Problematik, sondern darum, dass es sich lohnt, unsere tradierten Wahrnehmungen von der Weltordnung zu hinterfragen.

Haekel: Jedes Buch, das die Liebe zur Literatur entfacht, ist gleichermaßen wertvoll. Bei mir waren es „Dubliners“ von James Joyce und etwas später Shakespeares „Hamlet“. Aber wenn man sich hinauswagen möchte, um zu erfahren, was Literatur alles kann, dann würde ich „Paradise Lost“ von John Milton und Joyces „Ulysses“ sagen.

Stemmann: Emilia Roigs Sachbuch „Why We Matter“, weil dieses differenziert und anschaulich aufzeigt, wie Diskriminierungsmechanismen – auch unbewusst – unseren Alltag immer noch durchdringen.

Welge: Cervantes „Don Quijote“ (1605/1615). Viele sind vielleicht vom Umfang abgeschreckt. Dies ist aber einer der wenigen wirklich „klassischen“ Romane dieser Zeit, dessen Einfluss ungeheuer ist und der immer noch unterhält. Der zweite Teil ist noch besser.

 

Welches Buch haben Sie als Kind/Jugendliche:r geliebt?

Artwińska: „Anne of Green Gables“ der kanadischen Autorin Lucy Maud Montgomery. Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass die polnische Übersetzung, die ich damals gelesen habe, leider sehr stark von dem Original abweicht.

Haekel: Als Kind habe ich eigentlich nicht so viel gelesen, ein bisschen Fantasy und so. Richtig fing es erst so mit 15, 16 Jahren an, als ich - vielleicht etwas klischeehaft - vor allem Kafka und Dostojewski gelesen habe. Geliebt habe ich als Kind vor allem Comics, die Peanuts von Charles M. Schulz.

Stemmann: Zu meinen Lieblingsromanen und sehr positiv erinnerter (Vorlese-)Lektüre zählt auf jeden Fall Otfried Preußlers „Räuber Hotzenplotz“. Der Reiz lag in den herrlich schrägen Figuren, den sprachlichen Spielereien und natürlich Petrosilius Zwackelmanns Reise zum Zaubererkongress nach Buxtehude.

Welge: Otfried Preußler, „Krabat“ (1971). Dass das Buch auf einer sorbischen Sage aus der Lausitz beruht, wusste ich damals natürlich nicht. Für mich bleibt das Buch immer verbunden mit den Illustrationen von Herbert Holzing, der Atmosphäre, die von Raben und schwarzer Magie ausgeht sowie vom meisterhaften Sound der Sprache: „Komm nach Schwarzkollm in die Mühle, es wird nicht zu deinem Schaden sein!“

 

Was ist für Sie ein moderner Klassiker?

Artwińska: Jeder Klassiker ist modern! Ich kehre gern zu den großen Autoren des 19. Jahrhunderts zurück und stelle fest, dass sie über meine Welt schreiben. Ob  Gustave Flauberts „Madame Bovary“, „Anna Karenina“ von Lev Tolstoj oder die in Deutschland immer noch zu wenig bekannte „Die Puppe“ von Bolesław Prus: Es handelt sich um zeitlose, großartige Bücher.

Haekel: „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie und „Open City“ von Teju Cole, beides nigerianische Autor:innen. Beide Romane haben die Grenzen meiner Welt ungemein erweitert, und sie sind in der sich immer schneller verändernden Welt zugleich zeitlos und sehr aktuell.

Stemmann: Ich möchte hier keinen konkreten Roman nennen, sondern vielmehr vorschlagen, den Klassikerbegriff zu hinterfragen. Zum Klassiker sollten in meinen Augen vor allem Romane werden, die neue Perspektiven eröffnen und bisher Etabliertes hinterfragen und interessante erzählerische Formen finden. 

Welge: Das sind für mich vor allem Werke (aber auch Autor:Innen) des 20. Jahrhunderts, die repräsentativ für die literarische Moderne sind und zugleich von immer neuen Generationen gelesen werden. Eine moderne Klassikerin in diesem Sinne ist etwa die brasilianische Autorin Clarice Lispector. Ein moderner Klassiker der spanischen Romanliteratur ist Luis Martín-Santos „Schweigen über Madrid“ (Tiempo de Silencio, 1962).

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