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Unter dem Titel „Zwischen Apokalypse und Aufbruch“ ist im Herbst 2021 eine Anthologie erschienen. Die darin enthaltenen Texte der ukrainischen Gegenwartsliteratur zeigen, was der Krieg mit den Menschen macht. Gemeint ist der Krieg im Donbas. Aus Tagebucheinträgen, Erzählungen, Gedichten, Auszügen aus Romanen und Facebook-Einträgen spricht Zuversicht, Trauer, patriotischer Kampfgeist, Ernüchterung, Galgenhumor. Aus dem Ukrainischen und Russischen übersetzt haben sie zehn Studierende der Übersetzerstudiengänge der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw gemeinsam mit zehn Studierenden der Universität Leipzig und anderer Universitäten im Tandem. Das gemeinsame Arbeiten hat in vielerlei Hinsicht Spuren hinterlassen. Nicht nur, weil die Anthologie im Oktober in einem Verlag erschienen ist und die Wichtigkeit ukrainisch-deutscher Übersetzungsprojekte zeigt.

Ein Bilderbuch über den Krieg

„Die Texte zeigen unterschiedliche Perspektiven“, sagt Dr. Christian-Daniel Strauch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Slavistik und gemeinsam mit seiner Lwiwer Kollegin Oksana Molderf Herausgeber des Bands. „Einige geben Einblicke in die Erlebnisse von Soldaten an der Front wie etwa von der Verteidigung des Flughafens in Donezk, andere beleuchten die Sichtweise von Menschen in zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Streitkräfte unterstützen“, so Strauch. „Wir haben auch ein Bilderbuch dabei, das versucht, das Thema für Kinder zu vermitteln sowie ein Buch, das aus der verfremdenden Perspektive eines Hundes erzählt wird“, so der Herausgeber. Ihm sei wichtig gewesen, dass die Auswahl sowohl ukrainisch-sprachige als auch russisch-sprachige Werke beinhalte. „Denn beides sind Literatursprachen in der Ukraine“, sagt er. Die Werke wurden von ukrainischer Seite ausgewählt, die jeweiligen Auszüge suchten sich die Studierenden selbst. Ebenfalls im Band enthalten sind Auszüge eines Versromans der ukrainischen Autorin Svetlana Lavochkina, die in Leipzig lebt und auf Englisch publiziert.

Christian-Daniel Strauch und Oksana Molderf haben ebenfalls – wie die Studierenden – ein ukrainisch-deutsches Übersetzertandem gebildet. Den Titel für die Anthologie haben sie sorgfältig gewählt. „Wir wollten nicht Kriegsliteratur schreiben“, so Strauch. „Stattdessen verwenden wir den Begriff ‚Krise‘, wie er in der Medizin verwendet wird – ab einem Zeitpunkt wird es wieder besser. Wir wollten die positive Haltung transportieren, die man trotz allem in den meisten Texten vorfindet.“

Konfrontation mit der Wirklichkeit

Insgesamt sieben Monate hatten die Studierenden und ihre Dozent:innen Zeit, die Originale zu übersetzen, sich auszutauschen, füreinander die Qualität der Übersetzungen zu prüfen. Meistens kommunizierten die Tandems digital über die Lern- und Konferenzplattform der Uni Leipzig. Zwei Workshops konnten trotz der Corona-Pandemie physisch stattfinden: einer davon im Juni in Lwiw, der andere im September in Leipzig.

Maximilian Weise, Bachelor-Student der Ostslawistik, hat am Workshop im Lwiw teilgenommen und im Anschluss an das Projekt ein Semester in Kiew studiert. Für die Anthologie hat er zwei Romanauszüge übersetzt. Im ersten Werk „Pioniere“ von Serhij Hrydin setzt ein Vater alles daran, seinen Sohn, der selbst gerade Vater geworden ist und einen Einberufungsbefehl erhalten hat, vor dem Kriegsdienst zu bewahren – er selbst geht für ihn an die Front. In dem anderen Text, „Nullpunkt“ vom Artem Tschech schildert ein Soldat, der Urlaub von der Front bekommt, seiner Partnerin, wie er den Krieg erlebt. „Das war natürlich schon eine sehr emotionale Arbeit“, sagt Maximilian Weise. Bei seinen Aufenthalten in der Ukraine seit 2014 sei der Donbas-Konflikt immer präsent gewesen, wenn auch meist im Hintergrund. „Trotzdem war es schockierend, den Krieg so deutlich durch die Bücher vor Augen geführt zu bekommen", sagt er, auch wenn die konkreten Begebenheiten der Romane fiktiv seien.

Das war vor Februar 2022. Alles andere als fiktiv ist die Situation einer befreundeten Ukrainerin von Maximilian Weise, die vor dem jetzigen Krieg geflüchtet ist und die er vor einigen Tagen endlich in Deutschland begrüßen konnte.

Das Ding mit dem Nationalstolz

Seit seinem ersten Aufenthalt 2017 ist Maximilian Weise aufgefallen, dass die ukrainische Sprache inzwischen viel weiter verbreitet sei als früher. „Ich kannte es so, dass Kiew eher eine russischsprachige Stadt war“, sagt er. „Eine Freundin von mir ist auf dem Land groß geworden. Ihre Muttersprache ist Ukrainisch. Wenn sie als Kind mit ihrer Familie nach Kiew gefahren ist, hieß es immer: 'Jetzt sprechen wir Russisch', erzählte sie mir. Die Eltern sagten: 'Die Leute sollen nicht wissen, dass wir vom Dorf kommen.'" Das habe sich total gewandelt. Alle Schilder seien nun auf Ukrainisch.

Einige Autoren, sagt Christian-Daniel Strauch, wechselten nach Beginn des Donbas-Kriegs ihre Literatursprache vom Russischen ins Ukrainische – als Bekenntnis zu ihrer Heimat. „Auch für mich war es eine große Lernerfahrung, wie stark die Ablehnung alles Russischen seitens der Ukrainer inzwischen geworden ist“, gibt er zu. Deutsche Studierende des Übersetzungsprojekts, deren Russisch besser als ihr Ukrainisch ist, bekamen dies anfangs durchaus zu spüren, wenn sie selbstverständlich mit ihren ukrainischen Partnerinnen russisch sprechen wollten, berichten sowohl Strauch als auch Weise. „Wir können uns die Betroffenheit der ukrainischen Menschen aus unserer Perspektive kaum vorstellen“, so Strauch. Insbesondere ein starker Patriotismus sei für viele Deutsche ein schwieriges Thema, was im Projekt wiederum Erstaunen bei einigen ukrainischen Tandem-Partnerinnen hervorrief. „Aber auch deswegen wollten wir den Austausch haben“, sagt er.

„Ich musste lernen, Nachrichten nur dosiert zu mir zu nehmen“

Yuliya Komarynets kennt beide Seiten gut. Die Slawistik-Studentin der Universität Leipzig ist in der Ukraine geboren und mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen. Sie spricht sowohl Ukrainisch und Russisch als auch Deutsch auf muttersprachlichem Niveau. Sie hat eines der wenigen Gedichte der Anthologie übersetzt: „Die Aprikosen des Donbas“ von Ljubow Jakymtschuk sowie einen Auszug aus „Töchterchen“ von Tamara Horicha Sernja. Zudem hat sie die Facebookeinträge von Olena Stepowa mit dem Titel „Alles wird Ukraine oder Geschichten aus der ATO-Zone“ ins Deutsche übertragen. „Die Autorin hat praktisch aus dem Affekt heraus über das geschrieben, was sie gesehen und gefühlt hat, aus der Perspektive einfacher Zivilisten, und das stieß auf große Resonanz“, erläutert Komarynets. „Der Text ist auch insofern besonders, als er einen eher humoristischen Ton hat.“

Yuliya Komarynets ist mit allen Texten der Anthologie vertraut, denn sie schreibt ihre Masterarbeit über die Krisenliteratur aus dem Donbas. Verwandte von ihr leben noch im Westen der Ukraine. „Ich musste lernen, Nachrichten sehr dosiert zu mir zu nehmen – auch schon vor dem 24. Februar“, sagt sie. Je mehr sie sich mit der Thematik beschäftigt habe, desto eklatanter sei ihr aufgefallen, „wie groß die Kenntnislücken in Deutschland in Bezug auf die Ukraine sind.“ Die mediale Berichterstattung in Deutschland habe den Krieg im Donbas verharmlost. Der Ernst der Lage sei nicht erkannt worden, dies sei nun fatal. „Und dabei ist die Ukraine mitten in Europa“, sagt Yuliya Komarynets. Ihre Tandempartnerin ist derzeit in Dresden. „Ihr Glück ist, dass sie ohnehin derzeit bei einem Freiwilligendienst in Deutschland ist“, sagt sie.

„Es geht nicht nur um Gas und die NATO“

Christian-Daniel Strauch sieht es als wichtige Aufgabe der Universität an, mehr Länderexperten auszubilden, um künftige politische Fehleinschätzungen vermeiden zu helfen. „Das können jedoch wir in der Philologie nicht allein machen. Das ist eine Querschnittsaufgabe, denn Länderexperten müssen sich auch mit Wirtschaft, Politik und Geschichte auskennen“, sagt er. „Aber die Philologie hat einen großen Anteil daran: Sie ist in der Lage, Erklärungsmodelle für die Konflikte zu liefern, an denen diese Länder beteiligt sind. Hier geht es nicht nur um Gas oder um NATO, sondern um tiefgreifende ideologische Fragen“, so Strauch. „Und das kann man aufklären über die Analyse der Diskurse, die dort stattfinden. Diese wiederum untersucht man an Texten, und die Arbeit mit Texten ist die Domäne der Philologie.“

Er hofft, dass ähnliche, weitere Projekte langfristig an der Universität etabliert werden können. Er hofft auch, dass die Anthologie dazu beitragen möge, dass die ukrainischen Werke vollständig übersetzt werden und ihre Leser finden, auch wenn die Auflage nicht hoch sei.

Das Übersetzungsprojekt wurde im Rahmen des Förderprogramms „Ost-West-Dialog“ vom DAAD gefördert.

Die von Christian-Daniel Strauch & Oksana Molderf herausgegebene Anthologie "Zwischen Apokalypse und Aufbruch. Der Donbas-Krieg in ukrainischer Krisenliteratur" ist in der Edition Hamouda erschienen. Der Band umfasst 312 Seiten und kostet 18 Euro.

 

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