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Zu den besonders merkwürdigen Erscheinungen der politischen Gegenwart gehören die sogenannten „Reichsbürger“. Gemeint sind damit Menschen, welche die Bundesrepublik für einen Staat ohne Legitimation erachten. Vielmehr reklamieren sie Bürgerrechte für einen historischen Zustand vor 1945 für sich, als das Deutsche Reich noch existierte. Ähnlich halten es Bürger, die an sächsischen Straßenrändern eine der sogenannten Reichsflaggen schwenken. Damit wird an militaristische Traditionen des 19. Jahrhunderts angeknüpft – die für große Teile der Bevölkerung sicher nicht erstrebenswerter waren als der heutige Wohlfahrtsstaat.

Welche Zeitdeutung verbirgt sich hinter solchen Referenzen? Kann man sich jetzt etwa aussuchen, in welchem der unterschiedlichen Regime des letzten Jahrhunderts man leben will? Die Vorstellung, dass unterschiedliche Gesellschaften zwar gleichzeitig, dennoch in unterschiedlichen Zeiten leben, hat durchaus eine längere Tradition. Räumlich weit auseinanderliegende Gesellschaften schienen unterschiedliche Stadien der menschlichen Entwicklung zu repräsentieren. Europäische Forscher sahen in Afrikanern oft Menschen auf einem „steinzeitlichen“ Niveau. Noch jenseits des Rheins und der Oder wollte man Gesellschaften erkennen, die längst noch nicht die Höhe der deutschen Kultur erreicht hatten. Solche Feststellungen der eigenen Fortschrittlichkeit vermochten einen starken inneren Zusammenhalt zu begründen.

In der gegenwärtigen Situation scheinen jedoch Nachbarn der gleichen politischen Einheit in unterschiedlichen historischen Zeit-Schichten zu leben. Tatsächlich nehmen in der hochdynamischen Welt von heute Individuen den rasanten Wandel oft recht unterschiedlich wahr. Den einen gehen Reaktionen auf den Klimawandel oder auf Pandemien nicht schnell genug. Ihnen sind technische und gesellschaftliche Neuerungen eine Herausforderung, um die eigene Flexibilität zu erweisen. Andere sind hier deutlich träger, vorsichtiger und auch abwehrender. Für sie muss das Neue nicht per se auch das Bessere sein. Vielmehr erkennen sie in dem Vertrauten eine Evidenz, der gegenüber das Neue begründungspflichtig sei.

Früher hat man solche Haltungen gern dem Lebensalter zugeordnet: In der Jugend sei man eben dynamischer, offener und „linker“, mit zunehmender Gesetztheit werde man dann meist konservativer. Das scheint für viele der Haltungen von heute nicht mehr zuzutreffen. Ohne Bezug zum Alter analysieren Soziologen wie David Goodhart (The Road to Somewhere, 2017), es gebe heute in der Wahrnehmung vieler Menschen eine vermeintlich abgehobene kosmopolitische Elite der hochdynamischen „Anywheres“, die den stationären Lebensweisen von „Somewheres“ fortlaufend Neues zumute.

Vieles spricht dafür, dass sich in der Haltung von Reichsbürgern und Co. eine problematische Haltung zu den Dynamiken der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart widerspiegelt. In ihr scheint sich so etwas wie eine Überforderung oder gedankliche Erschöpfung zu äußern (Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst, 1998). Man scheint endlich irgendwo ankommen zu wollen, statt die Gegenwart fortlaufend als ein Durchgangsstadium zu etwas Neuem – und wiederum Herausforderndem – zu sehen.

Solche Abwehrhaltungen scheinen sich vor allem bei solchen Teilen der europäischen Bevölkerung etabliert zu haben, die sich in den vergangenen Jahrzehnten fortlaufend an veränderte Verhältnisse haben anpassen müssen. Das trifft in verstärktem Maße, wenn auch keineswegs exklusiv, auf ostdeutsche und osteuropäische Bürgerinnen und Bürger zu. Ihnen ist besonders dann eine gewisse Ermüdung anzumerken, wenn diese Veränderungen bislang weniger als Bereicherung denn als Infragestellung von sozialem Status und von biografischen Bilanzen erfahren wurden.

Daher verwundert es nicht, wenn jede weitere Veränderung von Skepsis begleitet ist. Die Abwehr wird besonders emotional, wenn mit moralischen Untertönen weitere „Lernziele“ formuliert werden, etwa sich klimaneutraler oder offener gegenüber Varianten des Lebensstils oder der Zuwanderung zu verhalten. Die Wut richtet sich dann gern auf vermeintliche Agenten dieses Wandels wie „Brüssel“, „die Politik“ oder „die Eliten“. Populisten haben das weltweit längst als ein Geschäftsmodell erkannt.

Niemand will ernsthaft in das Deutsche Kaiserreich zurück. Man muss aber konstatieren, dass in unseren rotierenden Gesellschaften unterschiedliche Radien und Tempi der Bewegung vorhanden sind, die noch unterschiedlicher wahrgenommen und verarbeitet werden. Wer unter diesen Voraussetzungen wem den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufkündigt, ist in der Tat nicht einfach zu beantworten. Ob Leitkonzepte räumlich und zeitlich stärker konvergieren und unterschiedliche Geschwindigkeiten wieder stärker miteinander synchronisiert werden sollten, sind weitere, ebenso offene wie komplexe Fragen, denen sich das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird widmen müssen.

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