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Der Rad-Wanderführer „Lanes to Language” von Prof. Dr. Gereon Müller lädt ein, die Spuren zwanzig namhafter Begründer der modernen Linguistik zu erkunden, die an der Universität Leipzig studierten, lehrten oder forschten. Unter ihnen befinden sich internationale Ikonen des Strukturalismus, wie Ferdinand de Saussure und Leonard Bloomfield, aber auch andere Größen, die man nicht unmittelbar mit Leipzig in Verbindung bringt. Die anschaulich beschriebenen und bebilderten Routen bringen die Menschen hinter den Namen ans Licht, ihre wissenschaftlichen Vermächtnisse und natürlich die Wege, die sie gegangen sind. Die Navigationsdaten der Touren gibt es einzeln zum Download im GPX-Format. Unsere Autorin Birgit Pfeiffer ist ein Stück mitgeradelt.

„Als ich 2004 mit meiner Familie von Mannheim nach Leipzig kam, wusste ich natürlich, dass Leipzig ein ausgezeichneter Ort für Sprachwissenschaft ist – aber, dass sämtliche Wurzeln der modernen Linguistik in Leipzig liegen, hat mich dann sehr überrascht”, sagt Gereon Müller, Professor für Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Leipzig. Wir stehen mit unseren Fahrrädern vor dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum in der Beethovenstraße, dem Anfangs- und Endpunkt aller Touren im Buch. Unser gemeinsamer Weg heute ist nicht weit, aber ein altbewährter: Es geht zum Coffe Baum. 

Schon eine Ecke weiter befindet sich einer der Orte, die im Buch vorkommen: der Justiz- und Polizeikomplex in der Harkortsraße. „Hier war Manfred Bierwisch in den 1950er Jahren als junger Mann inhaftiert”, erklärt Müller. „Er hatte kulturpolitische Zeitschriften aus dem Westen transportiert und saß insgesamt 10 Monate ein, einen Teil davon hier”, so der Linguist, der Bierwisch persönlich kannte. „Das war, bevor er das bahnbrechende Syntax-Werk ‚Die Grammtik des deutschen Verbs’ schrieb und interdisziplinär forschte.” Heute gelte Bierwisch, der 2024 starb, als wohl „berühmtester Sprachwissenschaftler deutscher Zunge der vergangenen 100 Jahre”, so Müller. 

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Auf einem vergilbten Papier steht: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Studia Grammatica. Grammatik des deutschen Verbs von Manfred Bierwisch".
Cover des Buchs „Die Grammtik des deutschen Verbs” von Manfred Bierwisch, Alumnus der Universität Leipzig. Foto: Prof. Dr. Gereon Müller

Nicht nur Musiker trafen sich im Coffe Baum

Der Coffe Baum, wo wir nun angekommen sind, war für viele Jahre im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Stammlokal der sogenannten Junggrammatiker. „Karl Brugmann und August Leskien waren der feste Kern dieser Gruppe von jungen Sprachwissenschaftlern, die in den 1870ern als Studenten nach Leipzig kamen und hier ein neues Paradigma entwickelten, das heute selbstverständlich ist: nämlich, dass Sprachen widerspruchsfreie Regelsysteme sind”, erklärt Müller bei einem Cappuccino an einem der Tische im Außensitz. „Sie betrachteten Sprache aus naturwissenschaftlicher Sicht, gewissermaßen mit positivistischen Augen und postulierten die ‚Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze’” , erläutert der Sprachwissenschaftler. Bei den alteingesessenen Philologen sei diese radikale Herangehensweise zunächst auf Skepsis gestoßen. Den Spitznamen „Junggrammatiker” – der ursprünglich wohl etwas spöttisch gemeint war – nahmen die Nachwuchswissenschaftler aktiv an und füllten ihn mit Leben. 

Leipzig: Der „Place to be“ für Nachwuchs-Linguisten um die Jahrhundertwende

„Brugmann und Leskien waren wissenschaftlich äußerst aktiv und zogen immer mehr Leute auch aus dem Ausland nach Leipzig und bildeten sie hier aus.” So zum Beispiel Karl Verner aus Dänemark, nach dem das „Vernersche Gesetz” der Lautverschiebung benannt ist. „Und hier kamen sie während der Semester wöchentlich zusammen.” Brugmann komme eine große Bedeutung auch als Wissenschaftsorganisator zu, als Mitbegründer des Sprachwissenschaftlichen Instituts – gemeinsam mit Eduard Sievers, Ernst Windisch und August Leskien. Die ihnen gewidmeten Touren führen durch die Parthedörfer, nach Halle und bis nach Merseburg.  

zur Vergrößerungsansicht des Bildes: Ein Mann sitzt an einem Tisch in einem Café und blättert in einem Buch.
Prof. Dr. Gereon Müller blättert vor dem „Coffe Baum” in seinem Rad-Wanderführer „Lanes to Language”. Foto: Birgit Pfeiffer

Auch die Strukturalisten promovierten hier

„Unter jenen, die bei den Junggrammatikern promovierten und ihre Ideen weiterentwickelten, waren auch Ferdinand de Saussure und Niecisław Baudouin de Courtenay – die Begründer des Strukturalismus“, erklärt der Linguist. Selbstverständlich sind auch ihnen Touren im Buch gewidmet: ebenso wie Leonard Bloomfield, dem US-amerikanischen Strukturalisten und Fürst Nikolaj Sergejewitsch Trubetzkoy, der als Entdecker der modernen Phonologie gilt. „Und sie alle waren zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Laufbahn hier in Leipzig, das ist das Faszinierende.” Und noch sind nicht einmal alle Namen genannt. Vergeblich suche man Gedenktafeln an relevanten Gebäuden, die an die Wegbereiter der modernen Linguistik erinnern würden, so Müller. Vielleicht liegt es daran, dass es keinen Nobelpreis für Linguistik gibt, überlegen wir. 

Spurensuche für Studierende

Auf erste Spurensuche per Rad begab sich Gereon Müller während der Corona-Pandemie. „Inspiriert von einem Kollegen aus Göttingen fuhr ich an für die Linguistik wichtige Orte im näheren Umfeld und machte kurze Videos – ich wollte das Fach während des Lockdowns für Studierende anschaulicher machen”, erklärt er. Sie sind heute noch auf der Uni-Website des Linguistik-Professors zu finden. „Ich habe dann immer mehr recherchiert und so entstand die Idee für das Buch.” 

„Mit dem Fahrrad kann man recht unkompliziert Orte erkunden, die mit dem Auto nicht so gut zugänglich sind”, erklärt Müller seine Idee eines Radwanderführers. Jede Radtour – die meisten sind zwischen 45 und 100 Kilometer lang – beginnt mit einer Übersicht zur Streckenlänge und der Beschaffenheit der Wege und endet mit einer Kartenansicht. Natürlich könne man Teilstrecken auch zu Fuß zurücklegen – Leskien sei etwa weite Strecken gelaufen – oder mit anderen Verkehrsmitteln, sagt der Buchautor.

Jede Tour wird illustriert durch Fotos wichtiger Stationen der jeweiligen Persönlichkeit sowie von Fotomontagen in schwarz-weiß, in denen die Köpfe der Portraitierten auf den Körpern historischer Rennfahrer zu sehen sind. Da die Linguistik-Community sehr international ist, gibt es das Buch nur auf Englisch.

Nächste Station: Weißenfels!

Vom Coffe Baum aus kann man gestärkt zu weiteren Zielen aufbrechen – zum Beispiel nach Weißenfels auf den Spuren von Professorin Anita Steube. Fast ihr ganzes akademisches Leben wirkte sie an der Universität Leipzig und hatte eine tragende Rolle für die Ausrichtung der Sprachwissenschaft in der Nachwendezeit inne. Wie viele der im Band Portraitierten war sie Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. 

Kommentare

  • Gerrit Imsieke,

    Wunderbar, ich habe es gleich bestellt, natürlich lokal bei Bücherwurm in Gohlis. Unter meinen Kollegen gibt es sowohl Linguisten als auch eine BSG Sektion Radsport, aber leider sind beide Gruppen (noch) disjunkt. Was unsere Linguisten und Radfahrer aber gemein haben, ist ihr – nicht zuletzt berufliches – Interesse an Büchern. Insofern werde ich das bestellte Buch der Firmenbibliothek spendieren, auf dass es die Linguisten zu gemeinsamen Exkursionen mit den Radlern anstiftet.

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