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Der Mensch hat Madagaskars Elefantenvögel ausgerottet – die Konsequenzen zeigen sich noch Jahrhunderte später in den Früchten der Palmen.

Barfuß klettert Jerôme den Baumstamm hoch. Geschickt schiebt der schlanke Madagasse die Teleskop-Heckenschere in die Palmkrone und schneidet einen Zweig mit Früchten ab, der krachend auf die Erde fällt.

„Super, Jerôme!“ ruft Laura Méndez. Die junge Forscherin zupft mehrere der birnengroßen Früchte ab und steckt sie für spätere Analysen in ihren Rucksack. Der ist mittlerweile ganz schön schwer geworden. Vier Kilometer Fußweg stehen heute noch an, während die Sonne bei über 35 Grad unbarmherzig vom Himmel brennt.

Die (birnen)großen und die (hagebutten)kleinen Palmenfrüchte

Seit zwei Monaten ist die gebürtige Spanierin Laura Méndez mit vier einheimischen Helfern auf Expedition in Madagaskar. Ihr Interesse gilt den Palmen und ihren Früchten. Etwa 200 verschiedene Arten gibt es hier; Méndez konzentriert sich auf zehn davon, die sie in zwei Gruppen unterteilt: die (birnen)großen und die (hagebutten)kleinen.

Was die ausgestorbene Megafauna damit zu tun hat

Doch die großen und kleinen Palmfrüchte sind nur die eine Seite ihrer Forschung. Die andere ist bereits ausgestorben: Vor langer Zeit wimmelte es auf der Insel von sehr großen Tieren; von Elefantenvögeln, Flusspferden und Riesenlemuren, der sogenannten Megafauna. Vor zirka 2.000 Jahren betrat Homo sapiens die Insel und begann, die großen Tiere auszurotten. „Es ist etwa 500 Jahre her, da verschwanden hier die letzten großen Tiere“, sagt Méndez. „Ich wäre gerne einem Exemplar begegnet, das vielleicht doch noch überlebt hätte – irgendwo im Wald. Aber das ist leider nicht passiert.“

Méndez will wissen, welche Auswirkungen das Aussterben der Megafauna auf die verschiedenen Palmarten hatte. „Ein Elefantenvogel zum Beispiel hat vermutlich die großen Früchte gefressen, ist dann ein paar Kilometer weitergelaufen und hat dort die Samen wieder ausgeschieden“, erklärt sie. Das passiert jetzt nicht mehr.

„Für die großfrüchtigen Palmen ist das schlecht“, sagt die Nachwuchsforscherin. „Für ihre Ausbreitung waren sie auf die großen Tiere angewiesen. Die kleinen Lemuren zum Beispiel, die es heute noch gibt, fressen nur die kleinen Palmfrüchte. Die Frage ist deshalb, warum die großfrüchtigen Palmen überhaupt noch hier sind und nicht alle mitausgestorben sind. Haben sie sich vielleicht evolutionär weiterentwickelt oder andere Strategien zur Ausbreitung gefunden?“ Die Antworten auf diese Fragen – so die Hoffnung der Doktorandin – stecken in den Genen der Pflanzen.

Zahlenkolonnen und komplexe Diagramme zur Auswertung

Szenenwechsel, drei Monate später: Laura Méndez sitzt gemeinsam mit ihrer Chefin vor dem Computer in Leipzig. Auf dem Bildschirm prangen lange Zahlenkolonnen und komplexe Diagramme. „Das sind die Informationen aus den Genen der Palmen“, sagt Dr. Renske Onstein, Leiterin der Forschungsgruppe „Evolution und Adaptation“ beim Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und Wissenschaftlerin der Universität Leipzig. Um diese Informationen zu gewinnen, musste Méndez die gesammelten Palmproben trocknen, zerkleinern und für die genetischen Analysen in spezialisierten Laboratorien präparieren. Nach sechs Monaten Planung, drei Monaten Feldarbeit, fünf Monaten Warten auf die Proben und zwei Monaten Laborarbeit, liegen nun endlich die Daten vor. Doch damit hat die Hauptaufgabe erst begonnen: Viel Statistik, Computerprogrammierung und Dateninterpretation sind notwendig, um aus den genetischen Informationen herauszulesen, wie sich das Ausrotten der madagassischen Megafauna auf die verschiedenen Palmenarten ausgewirkt hat.

Noch ist diese Auswertung nicht abgeschlossen und die Forschungsfrage unbeantwortet. Doch für Renske Onstein ist es nicht das erste Projekt dieser Art. Die niederländische Forscherin hat zuvor mit ähnlichen Methoden in Borneo, Australien, Costa Rica oder Ghana gearbeitet. Sie ist fasziniert von der Kraft der Evolution und den Spuren, die sie in den Genen der Lebewesen hinterlässt. „Mit den genetischen Informationen können wir weit in die Vergangenheit schauen”, sagt Renske Onstein und zeigt auf die Daten auf Laura Méndez’ Bildschirm. „Wenn das Aussterben der madagassischen Megafauna dazu geführt hat, dass die großfrüchtigen Palmen nur in kleinen, voneinander getrennten Populationen überlebt haben, dann müssten wir das in den heutigen Genen sehen können. Und dann können wir sogar herauslesen, wann das vermutlich passiert ist.“

Viele Puzzleteile erforschen biologische Vielfalt

Die Arbeit von Renske Onstein und Laura Méndez ist ein wichtiges Puzzleteil in den Arbeiten der Forscherinnen und Forscher am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv). Hier werden Zustand, Veränderung, Komplexität und Nutzen der biologischen Vielfalt erforscht – eine Bandbreite an Themen, die vom „Insektensterben“ bis zur Europäischen Agrarpolitik reicht. Übergeordnetes Ziel ist, das erworbene Wissen für den Erhalt und die Wiederherstellung biologischer Vielfalt zu nutzen.

Dazu gehört auch die genetische Vielfalt, die für die beiden Forscherinnen besonders wichtig ist. „Wenn von Biodiversität die Rede ist, denken die meisten an Artenvielfalt, aber nicht unbedingt an Gene“, sagt die Forschungsgruppenleiterin. „Das ist verständlich, denn wir können die Gene nicht sehen. Die Vielfalt der Gene ist aber eine wichtige Voraussetzung für das Überleben jeder Art. Und für uns ist sie ein wichtiges Werkzeug, mit dem wir die Geschichte der Biodiversität untersuchen können. Sie verrät uns viel über die Gefährdung von Arten und über die Konsequenzen, wenn Arten aussterben. Nicht nur in Madagaskar.“

Nächste Forschungsreise führt nach Afrika

Renske Onstein hat das Ziel der nächsten Forschungsreise schon im Blick: Südafrika. Anders als in Madagaskar ist die Megafauna dort noch am Leben, und insbesondere Elefanten tragen in ihren Bäuchen die Samen der großen Palmfrüchte über weite Strecken. „Der Vergleich zwischen Madagaskar und Südafrika wird sehr aufschlussreich sein“, ist sich die Wissenschaftlerin sicher.
Während die Ergebnisse noch im Dunkeln liegen, ist Onsteins Vorfreude auf die nächste Expedition schon jetzt deutlich zu erkennen.

Dr. Volker Hahn

Erklärvideo zur Forschung von Dr. Renske Onstein:

https://vimeo.com/390453594

 

Bildunterschrift: „Renske Onstein (hinten) und Laura Méndez diskutieren die aus den Palmen gewonnenen Gendaten.“ Foto: iDiv

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