Frau Heé, Sie sind seit diesem Sommersemester an der Alma mater Lipsiensis. Wie haben Sie sich bisher in der Stadt und an der Universität eingelebt? Gibt es schon Orte oder Erlebnisse, die Ihnen in der kurzen Zeit besonders ans Herz gewachsen sind?
Mir gefällt der grüne Gürtel der Stadt, die kurzen Wege, die es mir ermöglichen, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Der Auwald hat es mir besonders angetan.
Eine Schweizerin mit familiären Wurzeln in den Karpaten wird zu einer führenden Expertin für die Geschichte eines imperialen Inselstaats in Ostasien. Wie kam das denn?
Mich faszinierten als Kind die schlichten Holzhäuser mit Papierwänden, Menschen in Holzsandalen und enigmatische Tuschezeichen in alten Filmen, die mein Großvater aus den Karpaten auf seinen Reisen nach Japan in den 1950er und 60er Jahren aufgenommen hatte. Mit 15 Jahren beschloss ich, in diesem Land ein Austauschjahr in einer japanischen Künstlerfamilie zu verbringen, um meinem Schweizer Gymnasium für eine Weile zu entfliehen. Nach dieser ersten Berührung mit Kunst und Geschichte vertiefte ich später, im Rahmen eines Geschichts- und Kunstgeschichtestudiums, meine Kenntnisse. Während meiner Dissertation war ich erneut mehrere Jahre in Japan, und stand in regem Austausch mit japanischen Historikern, die ihre imperiale Vergangenheit aufarbeiten wollten.
Heute interessiere ich mich vor allem für den Zusammenhang zwischen imperialer Expansion und Ressourcenmanagement vom 20. bis ins 21. Jahrhundert. Ein Augenmerk gilt dabei spezifischen Formen des Umgangs mit Ressourcen, Resilienz, oder Klimawandel, der in der indo-pazifischen Region bereits unmittelbarer als in Europa zu spüren ist. Doch dies sind Themen, mit denen sich auch Deutschland in naher Zukunft bald noch stärker auseinandersetzen muss.
Sie haben zuletzt mehrere Jahre an der Osaka-Universität in Japan gearbeitet. Welche Unterschiede in der wissenschaftlichen Kultur und den Arbeitsweisen sind Ihnen aufgefallen? Was haben Sie besonders zu schätzen gelernt?
Das universitäre System gleicht dem angelsächsischen insofern, als die Hierarchien flacher sind, es mehr Professuren gibt und weniger prekäre Stellen im Postdoc-Bereich. Dieser Aspekt führt zu einem angenehmen Arbeitsklima, das ich sehr schätzte. Die wissenschaftliche Kultur in den Geisteswissenschaften zielt stark auf Einzelforschung ab, es gibt im Vergleich mit Deutschland wenig Verbundforschung, die auf wissenschaftlichen Stellen auf Drittmittelakquise fußt. Dafür finden die wenigen Doktorierenden, die das System ausbildet, fast alle über kurz oder lang eine Stelle im universitären Umfeld.
Japan steht vor der Herausforderung einer stark überalternden Gesellschaft, was auch das Wissenschafts- und Bildungssystem vor neue Anforderungen stellt. Uns blühen einigen demografischen Prognosen zufolge ja ähnliche Bedingungen in den kommenden Jahrzehnten. Auf welche Probleme müssen wir uns im Wissenschaftsbetrieb einstellen? Wie haben Sie es in Japan erlebt?
Insgesamt ist der demographische Wandel in Japan zu einem sehr dominanten Thema geworden. Mich hat erstaunt, wie präsent die Folgen einer schrumpfenden Bevölkerung im Alltag sind und auch medial verhandelt werden. Für die Universitäten bedeutet dies primär, dass sie zunehmend in Konkurrenz um die wenigen jungen Menschen stehen. Das trifft weniger elitäre und nicht in den großen urbanen Zentren gelegenen Universitäten natürlich früher und weit stärker, aber selbst die Osaka Universität, die als eine der drei besten Japans gilt, bekam sinkende Studierendenzahlen zu spüren.
Seit diesem Semester haben Sie die Professur für Japanologie am Ostasiatischen Institut inne. Sie möchten das Fach nun neu ausrichten. Was haben Sie vor?
Im Zentrum der Neuausrichtung steht, das historische sowie gegenwärtige Japan in seiner regionalen und globalen Verflechtung zu verstehen. Ziel ist es, soziale, ökonomische und politische Transformationen des heutigen Japans aus globalen Kontexten heraus und in ihrer historischen Bedingtheit zu erfassen. Eine solche Neuausrichtung dient nicht nur der Profilierung des Faches, sondern eröffnet den Studierenden auch zusätzliche berufliche Perspektiven. Die Japanologie kann einen systematischen Beitrag zu interdisziplinärer Forschung und Lehre der Universität Leipzig ebenso wie im internationalen Kontext leisten, indem sie historische und kulturelle Grundlagen heutiger geo-, ressourcen-, oder erinnerungspolitischer Gemengelagen aufzeigt.
In der Forschung sind in diesem Sinne zwei Schwerpunktsetzungen geplant: Erstens „Japan im Pazifik“ und zweitens „Japan aus transimperialer Perspektive“. Die erste Schwerpunktsetzung dient der Einbettung Japans in einen größeren regionalen Kontext. Die aktuelle politische Ökonomie des Pazifiks lässt sich ohne die historischen Hintergründe nicht verstehen. Die Japanologie in Leipzig kann sich zu einem Ort entwickeln, der damit verbundene Thematiken Studierenden, aber darüber hinaus auch einer breiteren Öffentlichkeit, vermittelt. Forschung und Lehre werden Genealogien regionaler Territorial- und Ressourcenkonflikte aufzeigen. Umweltveränderungen werden an politische und ökonomische Prozesse zurückgebunden werden. Es ist zentral, die globale Bedingtheit ebenso wie die Pfadabhängigkeiten heutiger Arbeitsverhältnisse und Migrationsflüsse in der Region aufzuschlüsseln. Angesichts der momentanen weltpolitischen Transformationsprozesse ist gerade auch in Deutschland der Bedarf an gesichertem historischem Wissen über die asiatisch-pazifische Weltregion groß.
Auch der zweite Schwerpunkt zielt darauf ab, nationale Engführung systematisch zu überwinden. Japan ist als außereuropäisches Imperium von zentraler Bedeutung in der neueren Imperiumsforschung, der Forschung zu Dekolonisierungsprozessen und Erinnerungspolitik. Diese zielt darauf ab, bisher marginalisierte Imperien wie das japanische stärker einzubinden und sichtbar zu machen. Dabei ist es unabdingbar, über den Tellerrand der einzelnen Imperien und ihre Sonderwegnarrative zu schauen und einen transimperialen Ansatz zu verfolgen, der Kooperation, Konkurrenz, und Konflikt zwischen ihnen als wechselseitigen Prozess im Blick hat. Transimperial versteht sich zudem auch im chronologischen Sinne: ein Schwerpunkt der Japanologie wird darin liegen, das imperiale Erbe in der heutigen Erinnerungspolitik mit seinen internationalen Implikationen zu erforschen.
Kommentare
Prof. i.R. Dr. habil. Steffi Richter,
Ich gratuliere Frau Prof. Heé, meiner "Nachfolgerin" auch noch einmal auf diesem Wege - persönlich habe ich das längst getan. Ich möchte gern kurz etwas zur Frage der Neuausrichtung anmerken. Dem ist thematisch (also das "Was" betreffend) ganz sicher so. Nur ist das, was dann - vor allem das "Wie" betreffend - konkret genannt wird, keineswegs so neu, wie ein Blick in Lehr- und Forschungsleistungen der vergangenen fast drei Jahrzehnte zeigt. Sowohl das frühneuzeitliche wie auch das moderne und gegenwärtige Japan ist von Beginn in regionale und globale Kontexte eingebettet worden. Und auch die Überwindung des sog. "methodischen Nationalismus" (hier "nationale Engführung" genannt), die Betrachtung der des modern-gegenwärtigen Japan aus der Perspektive des Kolonialismus (mithin der De-Kolonialisierung) oder auch globalen Erinnerungsprozessen - das waren Foki, die auch mit Drittmittel-geförderten Projekten gewürdigt wurden. Insorfern: es gibt durchaus Kontinuität, und das ist auch gut so.
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